Pressefreiheit durchgewunken?

Von Sebastian Köhler

1.) Der griechische Journalist Kostas (manche Quellen schreiben auch Costas) Vaxevanis wurde in der vorigen Woche in Athen angeklagt, nachdem er in seinem Wochen-Magazin „Hot Doc“ die Namen von mehr als 2000 Griechen veröffentlicht hatte, die mutmaßlich geheime Konten in der Schweiz führen, um Steuern zu hinterziehen (vgl. Printausgabe The Guardian, England, 2.11.2012, S.3). 2010 hatte die damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde ihrem griechischen Amtskollegen eine Liste mit solchen Namen übergeben, um mögliche Fälle von Steuerhinterziehung zu untersuchen. Die jetzige Veröffentlichung dieser Liste durch „Hot Doc“ hatte die Politik- und Wirtschaftseliten Griechenlands aufgescheucht. Das griechische Gericht sprach den Journalisten frei, und der sagte zu dem Fall in Anlehnung an Georg Orwell: „Journalismus bedeutet, etwas zu veröffentlichen, was jemand anderes nicht veröffentlicht sehen möchte. Alles andere ist Öffentlichkeitsarbeit“ (Übersetzung aus dem Englischen SeK). Es gibt zum Glück also beides noch in Griechenland – unabhängige Journalisten und unabhängige Richter. Das Land scheint mir alles andere als verloren.
2.) Keine gute Nachricht für die insolvente Nachrichten-Agentur dapd: Die WAZ-Gruppe, die als drittgrößtes Verlagshaus Deutschlands gilt, hat sich laut Mediendienst kress entschieden, wieder zur Nutzung der dpa-Angebote zurückzukehren und somit dapd den Rücken zu kehren. Das ist besonders spannend, weil die WAZ-Gruppe 2009 im Zuge von Ausgaben-Kürzungsvorhaben recht spektakulär von der dpa hin zu dapd gewechselt war. Dort firmiert der Essener Konzern als prestigeträchtiger Kunde, der für etwa vier Prozent des Umsatzes der Agentur sorgen soll (vgl. http://kress.de/mail/tagesdienst/detail/beitrag/118734-post-aus-essen-waz-gruppe-will-dapd-den-laufpass-geben.html, Aufruf am 7.11.12 um 16.13 Uhr).
3.) Gute Nachrichten, was die eigenen Bilanzen angeht, hingegen aus dem Hause „Springer“: Vorstandschef Mathias Döpfner hat angesichts der dritten Quartalsbilanz dieses Jahres erneut ein Rekordergebnis für das Gesamtjahr in Aussicht gestellt (siehe http://kress.de/mail/alle/detail/beitrag/118745-axel-springers-neun-monats-bilanz-digital-geschaeft-traegt-immer-staerker-zum-konzernergebnis-bei.html, Aufruf am 7.11.12 um 16.24 Uhr): Vor allem die Digitalgeschäfte scheinen sehr gut zu laufen, aber auch die inländischen Printmedien (z.B. BILD) spielen laut Döpfner – trotz sinkender Werbe-Einnahmen, also durch Kostensenkungen und entsprechend höhere Verkaufserlöse – Gewinne vor Steuern und Abschreibungen in Höhe von mehr als 20 Prozent ein. Die Konzernoberen sprechen von weiterhin hoher Ertragskraft und sehen als ein weiteres Mittel dazu die angekündigte „Redaktionsgemeinschaft“ von Welt-Gruppe, Hamburger Abendblatt und Berliner Morgenpost.
4.) Zum sprachkritischen Kaleidoskop: Die Kollegen des deutschen Textdienstes von Reuters berichteten am Montag, 5.12., um 13.41 Uhr, die spanische Regierung lege sich bei der Nominierung des Luxemburger Notenbankchefs Yves Mersch für das EZB-Direktorium quer: Im Text hieß es weiter hinten: “Die Euro-Staaten waren sich in der Personalfrage eigentlich bereits seit Juli einig. Nun versagte Spanien einem „schriftlichen Verfahren“ seinen Segen, in dem Mersch eigentlich durchgewunken werden sollte.” Ein Wunk mit dem Zaunpfahl sprachlicher Schmalspuren? Der Duden rät mittlerweile online zur Hauptvariante “durchgewinkt”. “durchgewunken” sei auch, aber vor allem umgangssprachlich möglich, mittlerweile sogar häufig anzutreffen (http://www.duden.de/rechtschreibung/winken, Aufruf am 5.11.12, 14.24 Uhr).
Viel strenger winkt der philologische Zeigefinger von Bastian Sick: “Das Verb „winken“ wird regelmäßig konjugiert: ich winke, ich winkte, ich habe gewinkt. Die Form „gewunken“ ist landschaftlich verbreitet, aber streng genommen ein Irrtum. Zwar heißt es „sinken, sank, gesunken“ und „trinken, trank, getrunken“, doch nicht „winken, wank, gewunken“. Die Formen von „winken“ werden wie die Formen von blinken, hinken und schminken regelmäßig gebildet. http://www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch/zwiebelfisch-abc-gewinkt-gewunken-a-311683.html, Aufruf am 5.11.2012, 14.18 Uhr)” Dasselbe gilt laut Sick für Zusammensetzungen wie eben: Der Lastwagen wurde durchgewinkt. Mir scheint ein ähnliches Argument mit Blick auf die sprachliche Vielfalt wichtig: Sofern die deutsche Sprache folgerichtig und formenreich mit schwachen und starken Verben aufgebaut ist, ist der Leitformen-Weg von “winken” über “wank” oder “wankte” zu “gewunken” schon besetzt durch ein anderes regelmäßiges, schwaches Verb: wanken- wankte – gewankt. Kurzschlüssige Verengungen unserer sprachlichen Möglichkeiten sollten nicht einfach “durchgewunken” werden.

„Witwenschüttler“ auf dem Höhepunkt?

Blog vom 23.5.2012 von Sebastian Köhler
1.) Es gibt Neues von der Front der Grenzgänger zwischen Journalismus, Öffentlichkeitsarbeit und Werbung. Denn in der „Bild“ findet sich ja ohnehin laut der Studie von Arlt und Storz „Eine Marke und ihre Mägde“ eine Mischung dieser drei medialen Kommunikations-Gattungen.
Und „Bild“ scheint auch die Drehscheibe zu sein für die Karriere(-n) des Bela Anda: Der hatte bis zum Jahre 2002 als Redakteur, Chefreporter und Ressortleiter bei dem Blatt gearbeitet. Dann berief ihn im Jahre 2002 Gerhard Schröder (der sollte ja 1999 geäußert haben, dass er zum Regieren nur Bild, Bams und Glotze brauche) nach seiner Wiederwahl zum Kanzler als Regierungssprecher, was Anda bis 2005 blieb. Später wurde Anda Leiter der Unternehmenskommunikation eines großen Finanzkonzerns, der AWD-Holding. Ab 15.Mai 2012 sollte Bela Anda wieder zur „Bild“ zurückkehren und als stellvertretender Chefredakteur ressortübergreifende Aufgaben wahrnehmen (vgl. BLZ 8.5.2012, S.26). Woran wir sehen können, dass „Bild“ sich mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft befindet – fragt sich nur, in welcher Gesellschaft?
2.) Auch in anderer Hinsicht steht „Bild“ wenn schon nicht in der Mitte, so doch im Mittelpunkt: Erstmals erhielten Mitarbeiter des Blattes den renommiertesten Journalistenpreis hierzulande in einer der Königskategorien, den Henri-Nannen-Preis für den besten investigativen Journalismus (siehe http://kress.de/mail/alle/detail/beitrag/116081-henri-nannen-preis-2012-hans-leyendecker-lehnt-auszeichnung-ab.html). Den Preis, aufgrund eines Jury-Patts geteilt mit einem Recherche-Team der „SZ“ für eine ganz andere Aufdeckung (wobei den dann namentlich Hans Leyendecker demonstrativ nicht annahm), gab es für Nikolaus Harbusch und Martin Heidemanns, die den Auslöser veröffentlichten, nach dem dann die Kreditaffäre um den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff aufgedeckt wurde. Der Kern des Disputes für einen an gesellschaftlicher Demokratisierung beteiligten Journalismus liegt darin, ob es bei einem solchen Preis 1.) um die reine Recherche-Leistung gehe oder 2.) um die konkrete Wirkung der Publikation oder aber 3.) um den Gesamtkontext des Mediums. Doch wenn Jury-Mitglied Ines Pohl von der taz ihre Ablehnung gegenüber Bild als Blatt der „Witwenschüttler“ kundtut, hat sie natürlich einerseits ganz einfach Recht, aber andererseits anscheinend nicht begriffen, dass Bild eben schon immer (s.o.) zumindest eine Melange aus (Boulevard-)Journalismus, PR in eigener und fremder Sache und aus Werbung ist. Und wenn sich dort die Gesellschaft dieser Tage in ihrer Mitte trifft, dann mag sich das freilich treffen mit dem wertvollsten Journalisten-Preis hier und jetzt.
3.) Im ZDF-Teletext stand am Sonntagabend, 6.5., die Schlagzeile: “Griechenland-Wahl: Euro-Sparkurs gefährdet”.  Abgesehen von der Problematik des Wortes “Sparen” als positiv besetztes scheint mir die gebotene Neutralität hier vor allem durch ein anderes Wort gefährdet. Denn gibt eine Gefahr, der wir auch nur gleichgültig, geschweige denn sogar positiv gestimmt gegenüberstehen können? Ich fürchte (sic!): Nein. Doch die Problematik von scheinbar objektiven Sorgen und Befürchtungen grassiert: Bei Reuters hieß es am 15. 5: „In Griechenland ist am Dienstag nach Angaben des Präsidialamts auch der letzte Versuch zur Regierungsbildung gescheitert. Damit steht das hochverschuldete Euro-Land vor Neuwahlen. Es wird befürchtet, dass daraus die Gegner der Sparauflagen von EU und IWF noch stärker hervorgehen könnten. Damit wachsen die Sorgen, dass das Land auf dem direkten Weg in den Bankrott ist und die Euro-Zone verlässt.“ Fragen eines lesenden Zeilen-Arbeiters: Wer befürchtet das? Und wessen Sorgen wachsen? Nur, falls wir keine anderen Sorgen haben …

Kaltblütig oder blindwütig?

Mein Aktuelle-Stunde-Thema dieser Tage wäre „Bild“ und deren offenbar geplante 60.-Geburtstags-Ausgabe am 23. Juni dieses Jahres, die werbefinanziert bei den über 40 Millionen Haushalten in Deutschland im Briefkasten landen soll – „kostenlos“ für die Nutzer. Ich schreibe „Bild“ und nicht „Bild-Zeitung“, weil es gute Gründe gibt (wie z.B. Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz in ihrer Studie im Auftrag der IG-Metall-nahen Otto-Brenner-Stiftung darlegen, siehe http://www.bild-studie.de/, Aufruf am 18.4., 12.30 Uhr), die Drucksache aus dem Springer-Verlag für eine zu halten, die verschiedene mediale Kommunikationsmodi nutzt, darunter (gelegentlich) auch den journalistischen. „Bild“ ist mit einer verkauften Auflage von rund 2,7 Mio. Exemplaren täglich und einer Reichweite von etwa 12,5 Mio. Lesern weiterhin das „Leitmedium“ der Deutschen – weder Tagesschau noch Dieter Bohlen oder auch Bayern München am gestrigen Tage (mit einer Reichweite von immerhin 11,5 Mio. bei Sat.1) kommen da heran. Aber wir können auch anders:
Vor zehn Tagen habe ich bei der Kampagnen-Plattform „Campact“ eine Aktion unterzeichnet, die den Springer-Verlag auffordert, das Blatt nicht in den persönlichen Briefkasten zu stecken. Da waren es erst ein paar Tausend Unterzeichner, jetzt gerade (18.4., 14 Uhr) sind es bereits fast 150.000 Menschen, die eine der größten Werbe- und PR-Maßnahmen der bundesdeutschen Mediengeschichte aktiv ablehnen. Soviel wegen der Transparenz zu meinem Hintergrund in diesem Zusammenhang.
Ein Sprecher von Campact erklärte (BLZ, 17.4., S.26), die Größenordnung der Nein-Sager dürfte den Springer-Verlag bei der Zustellung vor ernsthafte logistische Probleme stellen. Das Projekt selbst geht Medienberichten zufolge auf Bild-Chefredakteur Kai Diekmanns Initiative zurück. Ein Sprecher des Konzerns sagte: „Im Erscheinungsfall würden wir selbstverständlich alle Widersprüche beachten.“ Auch dazu mögen sich alle kompetenten Mediennutzer hierzulande bitte selbst ihre Meinung bilden – das „selbst“ ist an der Stelle nicht selbstverständlich, da sich ja doch mancher einbildet, „Bild“ bilde – mehr als nur die eigenen Vorurteile ab und bilde auch mehr als vor allem ein erfolgreiches Geschäftsmodell mit ganz verschiedenen medialen Kommunikationsmodi – siehe oben.
2.) Im sehr bemerkenswerten Buch „Newspeak in the 21st Century“ (erschienen 2009 bei Pluto Press in London und New York“, siehe hier Seite 84) haben die Autoren David Edwards und David Cromwell vom seit 2001 tätigen journalismuskritischen Netzwerk „Media Lens“ (www.medialens.org) ein treffendes Zitat des Journalisten Hannen Swaffer aus dem Jahre 1928 ausgegraben, zum Nach- und Weiterdenken über das Thema Medienfreiheit in demokratisch verfassten und kapitalistisch funktionierenden Gesellschaften: „Freedom of the Press in Britain means freedom to print such of the proprietor´s prejudices as the advertisers don`t object to.“
Zur Objektivitätsproblematik finden sich a.a.O., S.239, folgende Argumente, die für Transparenz, Außenreferenz und Perspektivenwechsel als Mittel zur Objektivierung sprechen: Laut US-Historiker Howard Zinn steht hinter jedem präsentierten Fakt eine auswählende Beurteilung, gerade diesen Fakt darzustellen – was zugleich heißt, viele andere mögliche Fakten nicht darzustellen. Jede dieser Beurteilung beruht Zinn zufolge auf dem Glauben und den Werten des Journalisten oder auch des Historikers, wie sehr diese sich auch immer der „Objektivität“ verpflichtet vorgeben. Laut dem US-Psychologen Jonathan Bargh ist dieses Auswählen ganz und gar menschlich – selbst Geräusche, Gerüche oder Bilder seien keine einfachen, objektiven Wahrnehmungen: „“There´s nothing that´s neutral. We have yet to find something the mind regards with complete impartiality, without at least a mild judgement of liking or disliking“.
David Edwards und David Cromwell entwickeln im Aufgreifen von Theorien und Praxen solcher Journalisten wie John Pilger oder solcher Medienkritiker wie Noam Chomsky ihren Ansatz für einen bewusst mitfühlenden Journalismus (a.a.O., S.240ff.). Laut US-Historiker Howard Zinn kann man auf einem fahrenden Zug nicht neutral sein. Das bedeutet für Edwards und Cromwell, erstens Mitgefühl zu entwickeln gegen Ignoranz, Gier und Hass. Zweitens sollten Journalisten sich bemühen „to identify the real causes of human and animal suffering with as much honesty as we are capable“. Das heißt Edwards und Cromwell zufolge, sich drittens der Ursache für unehrlichen, destruktiven Journalismus zu entledigen – des selbst-süchtigen Vor-Urteiles. Alles Leben, alles Glück und alles Lebensglück sei von prinzipiell gleichem Wert, was der mitfühlende Journalist nicht nur glaube, sondern auch fühle. Das Problem ist den beiden Autoren zufolge nicht die stets unvermeidliche Subjektivität, zu der man vielmehr bewusst stehen solle. Das Problem liege in den systematischen und strukturellen Verzerrungen dieser Subjektivität durch die Brenngläser des selbst-süchtigen Geizes und Hasses. Daher sei mitfühlender Journalismus auch ehrlicher Journalismus: Verpflichtet der Wohlfahrt der Anderen, der Sorge um alle. Die Grundannahme dieses Paradigmas lautet im Gegensatz zum common sense des „Friss, oder werde gefressen“: Allgemeines Mitgefühl ermögliche größtmögliche Vorteile für alle.
3.) Und nun zum sprachkritischen Kaleidoskop: Im RBB-Inforadio hieß es am 13.3. nach der Tötung von 16 afghanischen Zivilisten durch US-Militär, dort habe ein „kaltblütiger Amoklauf“ stattgefunden. Laut Duden online bedeutet Amok laufen, „in einem Zustand krankhafter Verwirrung [mit einer Waffe] umherlaufen und blindwütig töten“ (Aufruf am 21.3.2012, 14.06 Uhr). Das kann dann aber kaum kaltblütig passieren. Anderererseits sollten Journalisten zumindest im informationsbetonten Bereich doch eher „kaltblütig“ als „blindwütig“ agieren.
4.) Im sprachkritischen Kaleidoskop darf auch gerne mal gelobt werden – Moderatorin Marietta Slomka versprach im „heute journal“ vom 9.4.2012: „Vieles sonst noch Wichtige zum Syrienkonflikt finden Sie auf heute.de.“ Das klingt und ist doch viel besser, als viel zu oft die unsinnige, aber marktgängige All-Aussage zu hören: „Alles Wichtige dazu finden Sie dort und dort“.

Gibt es ein Leben nach dem Vorleben?

Blog vom 18.1.2012: Gibt es ein Leben nach dem Vorleben?
1.) Man muss, wie gesagt, Christian Wulff und seine Affären nicht verteidigen, um Kai Diekmann und das Haus Springer weiterhin kritisch zu fragen, warum dort der umstrittene Anruf des Bundespräsidenten vom 12.12. nicht „zeitnah“ veröffentlicht wurde. Und inwiefern sich der Verlag insgesamt nun zu Recht als Hüter von Pressefreiheit und Aufklärung feiern lässt. Die Tageszeitung „taz“‘ hakte bei Diekmann nach (http://www.taz.de/Diekmann-an-taz/!85638/, Aufruf vom 17.1.2012, 18.10 Uhr), es gab einige neckische Scheingefechte zwischen beiden Seiten, aber der spannenden Frage nach dem Zustand der „inneren Pressefreiheit“, also der Autonomie der Redakteure und der Redaktion im jeweiligen Hause, kam man kaum näher auf die Spur.
Namhafte Journalisten wie Hans-Ulrich Jörges vom „Stern“ oder Steffen Klusmann von der „FTD“ kritisieren mittlerweile vor allem die mediale Kritik an Wulff. Wenn allerdings Jörges auf dem Deutschen Medienkongress in Frankfurt am Main tatsächlich gesagt hat (laut epd und z.B. BLZ vom 18.1.2012, S.30): „Die Gerüchte über ein angebliches Vorleben von Bettina Wulff sind in den Medien auf eine rufmörderische Art und Weise thematisiert worden“, dann sollten wir in aller Ruhe festhalten, dass Bettina Wulff ganz sicher ein „Vorleben“ vor dem jetzigen an der Seite von Christian Wulff hatte. Die Frage bleibt, ob das schlicht beider Privatsache ist (was ja als die faire und journalistisch-professionelle Sichtweise erscheint), oder ob dieser Aspekt nicht doch auch öffentlich-relevante Facetten aufweisen könnte, Stichwort Unabhängigkeit oder eben etwaige Erpressbarkeit. Da sollten nicht nur Bild und taz im Interesse selbstkritischer gesellschaftlicher Kommunikation dranbleiben und nicht dem nächsten Schiff, das durchs Dorf gekentert wird, fast alle Ressourcen hinterherwerfen.
2.) Es tut sich was im deutschen Fernsehen, aber eher hinter den Kulissen. ARD und ZDF kämpfen sichtlich um jüngere Nutzer (also jünger als ca. 60 Jahre, wie wir neulich bei einer Exkursion zum ZDF in Berlin auch aus erster Hand bestätigt bekamen). Sie versuchen vor allem über ihre digitalen Ableger wie EinsFestival und ZDFneo, sogar noch jüngere Leute als 59-Jährige zu erreichen. Denn die Hauptprogramme bleiben traditionsbewusst – aus Furcht, anderenfalls Stammseher zu vergraulen. Und nun fällt ihnen ein anderes Urgestein anscheinend in den Rücken – Kurt Beck, seit Ewigkeiten Landesvater in Mainz und ca. ebenso lange schon Chef der Rundfunkkommission der Länder, hat im Fachmedium „Promedia“ erklärt, dass die öffentlich-Rechtlichen gerade solche neuen Programme doch aus Kostengründen streichen könnten (http://www.goldmedia.com/blog/2011/12/beck-schlagt-einstellung-von-vier-der-sechs-digitalkanale-von-ard-und-zdf-vor-ministerprasident-kurt-beck-im-gesprach-mit-der-promedia/#more-4508, Aufruf am 18.1.2012, 14.08 Uhr, vgl. BLZ vom 17.1.2012, S.26). Dabei liegt im Abschalten des analogen Satellitensignals in Deutschland ab April eine Chance gerade für die neueren Digitalkanäle, Reichweite und vielleicht auch Marktanteile auszubauen, also „Quote“ zu machen (was ja für die öffentlich-Rechtlichen anscheinend immer wichtiger wird). Klar, dass gerade RTL und ProSieben gegen solche Experimente von ARD und ZDF sind. Denn deren bisherige Alterspyramide ist ja für diese privat-Rechtlichen geradezu der Goldesel oder eben die Goldelse. Dass diese Versuchsballons der Verjüngung zwischen „Festival“ und „Neo“ nicht in den Himmel fliegen, dürfte auch daher klar sein – nicht zuletzt, weil die Rundfunkgebühren bis 2016 laut der zuständigen Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der (öffentlich-rechtlichen) Rundfunkanstalten nicht steigen, sondern maximal bei den bisherigen 17,98 Euro für Radio und TV bleiben sollen (vgl. .http://wissen.dradio.de/nachrichten.59.de.html?drn:news_id=62315, Aufruf 18.1.2012, 15.53 Uhr) Allerdings, soviel „neo“ bleibt uns auf alle Fälle erhalten, nicht mehr als gerätebezogene Gebühr, sondern neuerdings als Haushaltsabgabe.
3.) In den Zeilen zuvor taucht relativ häufig das Wort „anscheinend“ auf – und das ist nur scheinbar ein Zufall. Sondern ein Fall für unser sprachkritisches Kaleidoskop – ein Evergreen gerade in TV und Radio: Im ZDF-heute-journal hieß es zum tödlichen Waffengebrauch in einem Gericht in Bayern am 11.1.: „Wie kann es sein, dass der Angeklagte scheinbar ohne Kontrolle eine Waffen mit in das Gericht nehmen konnte?“ Scheinbar besteht also kein Unterschied zwischen „scheinbar“ und „anscheinend“. Aber eben nur scheinbar.

Journalismus-to-go: Wer oder was muss gehen?

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> Blog vom 11.1. „Journalismus-to-go“: Wer oder was muss gehen?
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> Die Wendung „Journalismus-to-go“ fand ich dieser Tage beim Schriftsteller und Satiriker Wiglaf Droste (http://www.herrenzimmer.de/2012/01/09/geiselhaft/., Aufruf 11.1.2012, 14.45 Uhr). Droste fiel auf, dass bei „Spiegel online“ davon die Rede war, Bundespräsident Christian Wulff habe sowohl „sein Land“ als auch „die Öffentlichkeit“ in „Geiselhaft“ genommen durch sein Lavieren in der Kredit- und Medienaffäre. Der Befund des Kritikers dagegen: die Kollegen seien „schwatzhaft“, wenn sie so von „Geiselhaft“ reden – gleichsam durch den Wulff gedreht: „Ist es nicht immer wieder erstaunlich, mit welchem Weihrauch im Ton Journalisten das Ausfüllenkönnen von Bewirtungsquittungen schon für Schreiben ausgeben?“ Neben der journalistikwissenschaftlichen Bestimmung von „Journalismus-to-go“ als durch raum-zeitliche Entkoppelungen per Internet und Mobilkommunikation geprägtem (siehe bei den Kollegen Neuberger oder Kretzschmar u.a. unter http://www.zeppelin-university.de/deutsch/lehrstuehle/Bilandzic/Publikationen_vorZU_Kretzschmar_eb.pdf, Aufruf 11.1.2012, 14.55 Uhr) kann ich dem Terminus hier mindestens drei neue Seiten abgewinnen: Solcher Journalismus wird wie der entsprechende Café schnell produziert und soll leicht konsumierbar sein. Er kann dazu beitragen, Leute hoch- oder runterzujazzen, auch zum Gehen oder eben Rücktritt zu zwingen. Und er mag bei kritischen Nutzern wie Droste bewirken, dass die sich abwenden – einfach weggehen. Ganz schön viel herauszulesen aus solchem Kaffee-Satz.
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> Was „Bild“ angeht (von der kluge Köpfe wie Wolfgang Storz und Hans-Jürgen Arlt mit guten empirischen und theoretischen Gründen schreiben – siehe http://www.otto-brenner-shop.de/publikationen/obs-arbeitshefte/shop/drucksache-bild-eine-marke-und-ihre-maegde-ah-67.html, Aufruf 11.1.2012, 21.04 Uhr -, dass es dort gar nicht um Journalismus gehe, sondern mittlerweile praktisch ausschließlich um Kampagnen von Öffentlichkeitsarbeit, Werbung und Marketing), ist es schon verblüffend, wie wenig der oberste Gralshüter der Pressefreiheit hierzulande, Kai Diekmann, gefragt wird, warum er das Thema „Anruf des bösen Wulff“ nicht zeitnah Mitte Dezember selbst und unzensiert publik machte. Die Medienjournalistin Ulrike Simon schreibt (BLZ 11.1.2012, S.26): „Nun steht Bild als Blatt da (…), mit dem sich andere Medien solidarisieren. Dieser Wert ist höher zu schätzen als jede Werbung, jede Auflagensteigerung, jedes Plus bei Online-Visits und jeder Aufstieg auf Platz irgendwelcher Rankings über die meistzitierten Medien. Wer Kai Diekmann kennt, weiß, wie spitzbübisch er sich darüber freuen kann.“ Und die Werbung könnte Christian Wulff hinterher rufen – „BILD dir ein, du wärest Bundespräsident“.
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> Facebook dreht weiter auf und damit dem einstigen Marktführer „VZ“ hierzulande weiter das Wasser ab: Die US-basierte Kommunikationsplattform des Mark Zuckerberg (http://kress.de/mail/tagesdienst/detail/beitrag/114064-featured-stories-facebook-platziert-werbung-im-newsfeed.html, Aufruf 11.1.2012, 21.19 Uhr) führt Werbung im Newsfeed, dem Hauptnachrichtenstrom der Nutzer, ein. Die Werbemeldungen sollen „Featured Stories“ heißen und nicht wie geplant „Sponsored Stories“, womit vermutlich noch mehr Nähe zum Journalismus simuliert werden soll. Anders als bei traditioneller Werbung dürfte der Inhalt der „Featured Stories“ nicht einfach aus einer vom werbenden Unternehmen formulierten Botschaft bestehen, sondern aus „Interaktionen“ von „Freunden“ mit dem jeweiligen Unternehmen. Solche „Featured Stories“ können Unternehmen, Organisationen oder Personen buchen. Laut Facebook sollen die meisten Nutzer nur eine Werbemeldung pro Tag in ihrem Newsfeed sehen. Ganz abschalten lässt sich laut Mediendienst „kress“ die Werbung nicht, jedoch können Nutzer einzelne Beiträge ausblenden. Man muss es eben mögen oder „liken“, dass der reine Adressen- und Datenverkauf anscheinend nicht ausreicht als Geschäftsmodell.
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> Und noch eine sprachkritische Fußnote zu „Dancing with Wulffs“, im Text von Reuters am 10.1.: „Die Diskussion über Bundespräsident Christian Wulff hat dem Staatsoberhaupt einer Umfrage zufolge in den vergangenen Tagen in der Bevölkerung Zustimmung gekostet“. Da schien mir ein schwerwiegender Fehler enthalten – wir diskutierten in der Redaktion anhand von Duden, Bertelsmann und Spellcheck. Ich erinnerte mich dann schließlich des Hamlet-Satzes von William Shakespeare (oder seinem Ghost-Writer): „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt“. Denn was vor einigen Jahren noch klar falsch gewesen sein mag, ist heute zumindest auch richtig. Das dürfte auch Christian Wulff oder Kai Diekmann trösten, sofern sie „Trost-to-go“ nötig haben.
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