Wider das Interview als bloße Marketingstrategie: Denken und Sprechen gemeinsam

1.) Der Publizist Axel Brüggemann fordert, das Interview als journalistische Darstellungsform wiederzubeleben, es seinem etymologischen Rahmen von „Zwischenblick“ von Neuem entsprechen zu lassen (vgl. Freitag 51/52/2011, S.2). Im Interview müssten Recherche und gelingendes Miteinander im offenen Augenblick zusammenkommen. Denn es sei „öffentliches Denken im Prozess“. Interviews lebten davon, dass gleichberechtigte Personen, meist zwei, an einem Ort zur selben Zeit gemeinsam einen Text schrieben. Gute Argumente entstünden am ehesten, wenn sie am Gegenüber wachsen, infrage gestellt und gemeinsam weiter entwickelt würden, als nachvollziehbares Denken und Sprechen. Das lässt sich an Gesprächspartnern wie Voltaire und Friedrich II., Goethe und Eckermann, Marx und Engels oder auch Heidegger und Hannah Ahrendt erkennen. Das Interview sei aber in wichtigen Bereichen heutzutage verkommen: Es sinke nicht nur in vielen TV-Talkshows ab zum Plausch als Marketingstrategie, zum Win-Win-Geschäft der Gesprächspartner – die Nutzer werden kaum als Mitdenker samt Mitspracherecht verstanden, sondern als Endverbraucher, als Käufer oder Wähler. Dagegen bleibe das Interview zu rekultivieren: mit gründlicher Vorbereitung, guten Fragen, Zuhören, weiterem Infragestellen, um mit Freund und Feind gemeinsam neu denken und reden zu können.

2.) „What’s the matter with the Internet?“, fragte schon in den 90er-Jahren der US-Historiker und -Philosoph Mark Poster in sozial-kritischer Perspektive, und auch ich habe mich in Anlehnung daran in „Netze – Verkehren – Öffentlichkeiten“ (2001) damit auseinandergesetzt, inwieweit das Netz der Netze – trotz Kolonialisierungen durch markt- und machtstarke Akteure – anhand seiner kulturell-technischen Potentiale und auch bestimmter empirischer Tendenzen dazu führen kann, zumindest zweierlei zu verändern (wie es Mark Poster sagte), nämlich: „transforming both contemporary social practices and the way we see the world and ourselves“. Mittlerweile weicht in Theorie und Praxis mancher Optimismus mehr einem bestimmten Pragmatismus, so auch beim Philosophen Byung-Chul Han, in Südkorea aufgewachsen und nun Professor für Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe (vgl. Freitag, Nr. 1/2012, S.15). Anhand des Beispieles, dass auf „Facebook“ nur Zustimmung möglich ist („Gefällt mir“-Button), erklärt Han, die heutige Gesellschaft sei von einem „Übermaß an Positivität“ geprägt. Denn „negative Gefühle sind offenbar hinderlich für die Beschleunigung des Prozesses“. Negativität hingegen verlangsame, verhindere „die Kettenreaktion des Gleichen“. Han unterscheidet eine sich immer mehr ausbreitende „Hyperkulturalität“ ohne jeden Abstand (ohne Schwellen und Übergänge und stattdessen mit totaler Mobilität einschließlich Promiskuität) von Inter- oder Multikulturalität, denen weiterhin die Negativität kultureller Spannungen innewohne. So sieht er, ähnlich wie seinerzeit Jean Baudrillard die Wirklichkeit in einer Hyperrealität verschwinden sah, die Kulturen in einer Hyperkultur verschwinden.
Zwei Grundtendenzen beobachtet Han: eine ausgestellte Freundlichkeit (2006) und zugleich eine die gesamte Gesellschaft erfassende Müdigkeit (2010). Bezogen auf soziale Netzwerke wie Facebook sieht der Philosoph die panoptische Tendenz des Internets (alles kann gesehen werden) noch einmal verschärft: Alle Nutzer seien hier tendenziell sowohl dem panoptischen Blick (und damit nicht zuletzt machtvoller Kontrolle) ausgesetzt als auch „der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie“. Kontrolle erfolge hier nicht wie in Disziplinargesellschaften durch Isolierung, sondern durch Vernetzung. Die Nutzer wähnten sich frei, was aber vor allem Gewalt zur Selbstausbeutung hervorbringe – Exzesse von Entgrenzung und Enthüllung bis hin zur pornografischen Nacktheit: „Der Neoliberalismus hat die Individuen zu Mikro-Unternehmern gemacht“, zwischen denen vor allem Geschäftsbeziehungen stattfänden, die einen Profit versprächen. Auch die Freundschaftsbeziehungen bei Facebook sind so im Wesentlichen nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, vermarktet zu werden. Oder wie es Han sagt: „In ökonomischer Hinsicht ist Facebook ein Raum der Ausbeutung“. Das Paradox sieht er darin, dass sich Nutzer im Panoptikum so frei wie noch nie fühlten. Denn die „List des Systems“ bestehe darin, gerade das zum Verschwinden zu bringen, wogegen Menschen sich noch konkret empören könnten. Allerdings hat auch Han keinen gesellschaftlichen Gegenentwurf, der gemeinschaftliche und individuelle Ebenen einschlösse, sondern ihm scheint „eine Gemeinschaft“ der (echten) Freundlichkeit vorzuschweben, die des Anderen und der Anderen bedarf und zugleich ohne Verwandtschaft oder gemeinsame Zugehörigkeit, ohne „Gruppendruck“ auskommen soll.

3.) Und noch etwas aktuelle Sprachkritik aus meinem Kaleidoskop: Im ZDF-Morgenmagazin am 22.3.2012 um 7:02 Uhr lautete der Text einer Studiomeldung: „Bei Schlecker stehen 11.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel.“ Solch spielerisches Herangehen mag sich nicht jedem erschließen – für die Beschäftigten dürfte es kaum ein Spiel sein, da ein solches zumeist ohne weitergehenden „ernsten“ Zweck dem Vergnügen dienen soll und allein aus Freude an seiner Ausübung betrieben wird. „ … sind in Gefahr“ wäre auch noch nicht sehr sachlich, käme aber der Sache näher. Was wäre die beste Lösung dieses „Spieles“, da es ja nicht nur um ein Sprachspiel geht?