Kaltblütig oder blindwütig?

Mein Aktuelle-Stunde-Thema dieser Tage wäre „Bild“ und deren offenbar geplante 60.-Geburtstags-Ausgabe am 23. Juni dieses Jahres, die werbefinanziert bei den über 40 Millionen Haushalten in Deutschland im Briefkasten landen soll – „kostenlos“ für die Nutzer. Ich schreibe „Bild“ und nicht „Bild-Zeitung“, weil es gute Gründe gibt (wie z.B. Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz in ihrer Studie im Auftrag der IG-Metall-nahen Otto-Brenner-Stiftung darlegen, siehe http://www.bild-studie.de/, Aufruf am 18.4., 12.30 Uhr), die Drucksache aus dem Springer-Verlag für eine zu halten, die verschiedene mediale Kommunikationsmodi nutzt, darunter (gelegentlich) auch den journalistischen. „Bild“ ist mit einer verkauften Auflage von rund 2,7 Mio. Exemplaren täglich und einer Reichweite von etwa 12,5 Mio. Lesern weiterhin das „Leitmedium“ der Deutschen – weder Tagesschau noch Dieter Bohlen oder auch Bayern München am gestrigen Tage (mit einer Reichweite von immerhin 11,5 Mio. bei Sat.1) kommen da heran. Aber wir können auch anders:
Vor zehn Tagen habe ich bei der Kampagnen-Plattform „Campact“ eine Aktion unterzeichnet, die den Springer-Verlag auffordert, das Blatt nicht in den persönlichen Briefkasten zu stecken. Da waren es erst ein paar Tausend Unterzeichner, jetzt gerade (18.4., 14 Uhr) sind es bereits fast 150.000 Menschen, die eine der größten Werbe- und PR-Maßnahmen der bundesdeutschen Mediengeschichte aktiv ablehnen. Soviel wegen der Transparenz zu meinem Hintergrund in diesem Zusammenhang.
Ein Sprecher von Campact erklärte (BLZ, 17.4., S.26), die Größenordnung der Nein-Sager dürfte den Springer-Verlag bei der Zustellung vor ernsthafte logistische Probleme stellen. Das Projekt selbst geht Medienberichten zufolge auf Bild-Chefredakteur Kai Diekmanns Initiative zurück. Ein Sprecher des Konzerns sagte: „Im Erscheinungsfall würden wir selbstverständlich alle Widersprüche beachten.“ Auch dazu mögen sich alle kompetenten Mediennutzer hierzulande bitte selbst ihre Meinung bilden – das „selbst“ ist an der Stelle nicht selbstverständlich, da sich ja doch mancher einbildet, „Bild“ bilde – mehr als nur die eigenen Vorurteile ab und bilde auch mehr als vor allem ein erfolgreiches Geschäftsmodell mit ganz verschiedenen medialen Kommunikationsmodi – siehe oben.
2.) Im sehr bemerkenswerten Buch „Newspeak in the 21st Century“ (erschienen 2009 bei Pluto Press in London und New York“, siehe hier Seite 84) haben die Autoren David Edwards und David Cromwell vom seit 2001 tätigen journalismuskritischen Netzwerk „Media Lens“ (www.medialens.org) ein treffendes Zitat des Journalisten Hannen Swaffer aus dem Jahre 1928 ausgegraben, zum Nach- und Weiterdenken über das Thema Medienfreiheit in demokratisch verfassten und kapitalistisch funktionierenden Gesellschaften: „Freedom of the Press in Britain means freedom to print such of the proprietor´s prejudices as the advertisers don`t object to.“
Zur Objektivitätsproblematik finden sich a.a.O., S.239, folgende Argumente, die für Transparenz, Außenreferenz und Perspektivenwechsel als Mittel zur Objektivierung sprechen: Laut US-Historiker Howard Zinn steht hinter jedem präsentierten Fakt eine auswählende Beurteilung, gerade diesen Fakt darzustellen – was zugleich heißt, viele andere mögliche Fakten nicht darzustellen. Jede dieser Beurteilung beruht Zinn zufolge auf dem Glauben und den Werten des Journalisten oder auch des Historikers, wie sehr diese sich auch immer der „Objektivität“ verpflichtet vorgeben. Laut dem US-Psychologen Jonathan Bargh ist dieses Auswählen ganz und gar menschlich – selbst Geräusche, Gerüche oder Bilder seien keine einfachen, objektiven Wahrnehmungen: „“There´s nothing that´s neutral. We have yet to find something the mind regards with complete impartiality, without at least a mild judgement of liking or disliking“.
David Edwards und David Cromwell entwickeln im Aufgreifen von Theorien und Praxen solcher Journalisten wie John Pilger oder solcher Medienkritiker wie Noam Chomsky ihren Ansatz für einen bewusst mitfühlenden Journalismus (a.a.O., S.240ff.). Laut US-Historiker Howard Zinn kann man auf einem fahrenden Zug nicht neutral sein. Das bedeutet für Edwards und Cromwell, erstens Mitgefühl zu entwickeln gegen Ignoranz, Gier und Hass. Zweitens sollten Journalisten sich bemühen „to identify the real causes of human and animal suffering with as much honesty as we are capable“. Das heißt Edwards und Cromwell zufolge, sich drittens der Ursache für unehrlichen, destruktiven Journalismus zu entledigen – des selbst-süchtigen Vor-Urteiles. Alles Leben, alles Glück und alles Lebensglück sei von prinzipiell gleichem Wert, was der mitfühlende Journalist nicht nur glaube, sondern auch fühle. Das Problem ist den beiden Autoren zufolge nicht die stets unvermeidliche Subjektivität, zu der man vielmehr bewusst stehen solle. Das Problem liege in den systematischen und strukturellen Verzerrungen dieser Subjektivität durch die Brenngläser des selbst-süchtigen Geizes und Hasses. Daher sei mitfühlender Journalismus auch ehrlicher Journalismus: Verpflichtet der Wohlfahrt der Anderen, der Sorge um alle. Die Grundannahme dieses Paradigmas lautet im Gegensatz zum common sense des „Friss, oder werde gefressen“: Allgemeines Mitgefühl ermögliche größtmögliche Vorteile für alle.
3.) Und nun zum sprachkritischen Kaleidoskop: Im RBB-Inforadio hieß es am 13.3. nach der Tötung von 16 afghanischen Zivilisten durch US-Militär, dort habe ein „kaltblütiger Amoklauf“ stattgefunden. Laut Duden online bedeutet Amok laufen, „in einem Zustand krankhafter Verwirrung [mit einer Waffe] umherlaufen und blindwütig töten“ (Aufruf am 21.3.2012, 14.06 Uhr). Das kann dann aber kaum kaltblütig passieren. Anderererseits sollten Journalisten zumindest im informationsbetonten Bereich doch eher „kaltblütig“ als „blindwütig“ agieren.
4.) Im sprachkritischen Kaleidoskop darf auch gerne mal gelobt werden – Moderatorin Marietta Slomka versprach im „heute journal“ vom 9.4.2012: „Vieles sonst noch Wichtige zum Syrienkonflikt finden Sie auf heute.de.“ Das klingt und ist doch viel besser, als viel zu oft die unsinnige, aber marktgängige All-Aussage zu hören: „Alles Wichtige dazu finden Sie dort und dort“.