Gelder landen sicher – Goldgrube oder Milliardengrab?

Von Sebastian Köhler

1.) Die Journalistenorganisation „Reporter ohne Grenzen“, die sich seit 1985 erklärtermaßen für Informationsfreiheit weltweit einsetzt, hat ihre aktuelle Rangliste der Pressefreiheit (also: der Freiheit journalistischer Medien wie auch Radio etc.) veröffentlicht (http://www.reporter-ohne-grenzen.de/ranglisten/rangliste-2012/, Aufruf am 30.1.2013, 11.18 Uhr). Globale Spitzenreiter bleiben Finnland, die Niederlande und Norwegen, Schlusslichter bei RoG sind weiterhin Syrien, Turkmenistan, Nordkorea und auf dem letzten Platz Eritrea. Die Medienfreiheit in Deutschland rutschte um einen Platz nach hinten nunmehr auf Rang 17. Problematisch erscheint laut der Menschenrechtsorganisation hierzulande vor allem die abnehmende Vielfalt der journalistischen Medien: Aus erklärtem Geldmangel arbeiteten immer weniger Zeitungen mit eigener Vollredaktion, mehrere Redaktionen wurden 2012 komplett geschlossen. Gleichzeitig investierten Unternehmen und PR-Agenturen steigende Summen, um ihre Inhalte zu publizieren. Zudem gelangten Journalisten oft nur schwer an Informationen von Behörden. Mit Sorge beobachtet RoG die Diskussionen um ein neues Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung und Drohungen extremistischer Gruppen gegen kritische Redaktionen. Etwas überraschend mag sein, dass RoG – im Unterschied zu deutschen Journalisten-Berufsorganisationen – die gesetzlichen Neuregelungen von Schwarz-Gelb (zur Ergänzung von § 353 StGB) im Jahr 2012 klar positiv bewertet. Diese neuen Bestimmungen sollen Journalisten in Deutschland etwas weniger als bisher der Gefahr von Redaktionsdurchsuchungen und Beschlagnahmen aussetzen (nun nur noch bei Verdacht der Anstiftung zum Geheimnisverrat, nicht mehr aber bei bloßer Beihilfe). Allerdings werden auch in der neuen Gesetzesfassung Journalisten weiterhin nicht als professionelle Träger von Berufsgeheimnissen anerkannt, was unter anderem die dju in Verdi moniert (http://dju.verdi.de/pressemitteilungen/showNews?id=9efb322c-79cd-11e1-7f66-001ec9b05a14,, Aufruf am 30.1.2013, 11.44 Uhr).
2.) Nun gibt es auch eine ziemlich deutsche Version des „Crowdfounding“ journalistischer Arbeit, also des möglichst weit reichenden Sammelns von Spenden zur Finanzierung nach einem Aufruf, an einem relativ aufwändigen Recherche- oder Reportage-Projekt in einer bestimmten Frist mitzuwirken (vgl. „Wenn das Netz bezahlt“ von Marin Majica in BLZ, 29.1.2013, S.25): Die Plattform „Krautreporter.de“ versteht sich (natürlich) nicht als „die Rettung des Journalismus“, sondern als eine Möglichkeit seiner Weiterführung. Wichtig erscheint mir erstens, dass die Spender eher als aktive Nutzer auftreten (sollen), also nicht als passive Mäzene. Man kauft laut Krautreporter-Kopf Sebastian Esser weniger ein Produkt, als dass die Nutzer selber Teil der Produktions-Prozesse werden (können). Und zweitens führen diese Aufrufe und Interaktionen sicher zu (noch) mehr Selbstmarketing – Journalisten werden zu Marken und Marktschreiern ihrer selbst. Das lässt es spannend erscheinen, ob der Journalismus auf diesen Kraut-Wegen neue Balancen seiner Doppel-Köpfigkeit als Ware und Kulturgut findet.
3.) „El País“, vielleicht die wichtigste spanischsprachige Tageszeitung weltweit, erschien mir lange Zeit ein sehr lesenswertes, linksliberales Blatt. Die Krise hat auch bei „El País“ ziemlich das Land verwüstet – voriges Jahr hatte der Verlag erklärt, 30 Prozent der Belegschaft zu entlassen und der verbleibenden Kernbelegschaft die Gehälter pauschal um 15 Prozent zu kürzen. So falsch das sein mag, so falsch war der Foto-Scoop, den die Zeitung am 23./24. Januar landen wollte, mit der scheinbar ersten globalen Veröffentlichung eines Fotos des erkrankten Hugo Chávez, des Präsidenten Venezuelas, nach dessen erneuter Krebsoperation am 11.12.12 auf Kuba. Nicht nur die Regierung Venezuelas nannte das Vorgehen, ein Foto aus einem offenbar bereits 2008 auf YouTube hochgeladenen Video einer anderen Person als „Chávez exklusiv“ von einer Bildagentur zu kaufen und sogleich weiterzuverkaufen, „grotesk“ – Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner sprach von einer absichtlichen „Schurkerei“ (vgl. http://latina-press.com/news/144162-venezuela-el-pais-veroeffentlicht-fake-foto-von-hugo-chavez/, Aufruf am 30.1.2013, 16.07 Uhr). Die Redaktion brauchte nach Erscheinen des Bildes in Print- und Onlineausgabe ca. 40 Minuten, um dann zu erklären, es sei versäumt worden, Ort und Datum der Entstehung des Bildes zu überprüfen. „Das Geheimnis der Krankheit von Chávez“ hieß die Überschrift zum Bild, das die Auflage anscheinend um jeden Preis hochtreiben sollte (vgl. http://www.jungewelt.de/2013/01-26/014.php?sstr=el|pais,Aufruf am 30.1.2013, 16.24 Uhr). Doch das „mea culpa“ der Redaktion wurde auf geheimnisvolle Art zum Rundumschlag: Die Verantwortlichen von El País ließen mehrfach erklären, dass die restriktive Informationspolitik der Regierungen Kubas und Venezuelas zumindest mitverantwortlich gewesen sei für den Skandal (vgl. http://internacional.elpais.com/internacional/2013/01/26/actualidad/1359234203_875647.html, Aufruf am 30.1.2013, 16.37 Uhr). Klar – wenn offizielle Stellen keine Bilder bieten, muss man das selbst in die Hand nehmen. Auch Pippi Langstrumpf singt: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“. Oder wie der Redaktions-Chor von El País (falls es den – noch – gibt) hinzuträllern dürfte: „Vor allem, wenn es zahlungskräftige Nachfrage danach gibt!“
4.) Wenn die Dauer-“bau“-stelle Großflughafen Berlin-Brandenburg (sprachkritisch durch unser Kaleidoskop betrachtet) eines NICHT ist, dann das vielbeschworene „Milliardengrab“ (siehe hingegen z.B. http://www.focus.de/finanzen/news/berlin-hat-kein-geld-fuer-den-flughafen-milliardengrab-ber-droht-im-november-die-insolvenz_aid_811043.html´, Aufruf am 30.1.2013, 16.45 Uhr). Die „geplanten“ Kosten des Projektes stiegen (http://de.wikipedia.org/wiki/Flughafen_Berlin_Brandenburg, Aufruf am 30.1.2013, 16.51 Uhr) von 1,7 Milliarden Euro (2004) auf jetzt mindestens 4,3 Milliarden Euro (2012). Nein, diese Gelder wurden und werden NICHT verbrannt (auch wenn der Flughafen so ähnlich heißen soll), und sie verschwanden und verschwinden auch nicht in irgendeinem schwarzen Loch. Sie werden einfach von uns Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern eingezogen und dann verteilt, neu verteilt, umverteilt. Große Konzerne (z.B. Global Player wie Siemens und Bosch) sowie mittelständische Unternehmen (unter anderem Baufirmen aus der Region) sind und bleiben im Geschäft. Anstatt nur auf die regierenden und sich abwechselnden „Pfeifen“ (so ein Unionspolitiker gegen Wowereit und Platzeck, siehe http://www.spiegel.de/politik/deutschland/streit-um-flughafengesellschaft-csu-bezeichnet-platzeck-als-pfeife-a-876685.html, Aufruf am 30.1.2013, 17.14 Uhr) an der Aufsichtsratsspitze einzuschlagen, wäre es journalistisch verdienstvoll, genau zu recherchieren und zu publizieren, wo die Gelder (nach dem Geld-Erhaltungssatz – Geld erhält sich zwar nicht genauso wie Energie, aber jemand Bestimmtes erhält es meistens) durch die – doch leicht hirn-verbrannten – Vernebelungen von „Milliardengrab“ und „schwarzem Loch“ hindurch schon gelandet (sic!) sind und noch landen werden – ich vermute, es geht auch da um ziemlich handfeste materielle Interessen.

Nur keine Neidspirale: Umsonst kann teuer werden

Von Sebastian Köhler

1.) Auf sogenannten sozialen Netzwerken wie Facebook geht es weit überwiegend „positiv“ zu, es herrscht hier laut dem deutsch-koreanischen Philosophen Byung Chul Han geradezu ein „Übermaß an Positivität“ – beispielsweise gibt es vor allem und ganz einfach zu bedienen den „Like“-Button (siehe mein Blog vom 23.3.2012). Doch dieser besondere Positivismus führt – Forschern der Berliner Humboldt-Universität um Wirtschaftsinformatikerin Hanna Krasnova zufolge – dazu, dass „Facebook“ tendenziell als Neidspirale funktioniert: Die ausgestellten guten Seiten, tollen Meldungen und schönen Fotos erzeugen im sozialen Vergleich bei vielen Befragten Frustration. Um diese zu kompensieren, stellen etliche Nutzer in Reaktion darauf ihr eigenes Leben auch oder sogar noch positiver dar, was wiederum zu Neidgefühlen bei den nächsten „Freunden“ führen dürfte – die Spirale ist im Gang. Solche Neidgefühle sollen sich durchaus negativ auf die Lebenszufriedenheit der Nutzer auswirken (vgl. http://meedia.de/internet/facebook-erzeugt-eine-neidspirale/2013/01/22.html, Aufruf am 23.1.2013, 16.14 Uhr, siehe Tageszeitung junge Welt. 22.1.2013. S.12). Deshalb scheint der Logout-Button in solchen Fällen fast noch wichtiger als der Like-Button.
2.) Die Tendenz zum „Umsonstjournalismus“ (hier gemeint vor allem in Form der unbezahlten Mehrfachverwendung journalistischer Arbeit durch Verlage oder Sender in verschiedenen Medien/Kontexten) ist laut Journalistikwissenschaftler Hektor Haarkötter (München) und Medien-Anwalt Stefan Müller-Römer (Köln) auch urheberrechtlich fragwürdig: Wenn wir von § 32 des Urhebergesetzes ausgehen, der eine angemessene Vergütung für den Urheber rechtlich verlangt, dann sollten auch die allermeisten journalistischen Beiträge als Werke in diesem Sinne gelten. Das Landgericht Hamburg hat in einem vor allem für freie Journalisten weg-weisenden Urteil befunden (vgl. MMM 7/2012, S.35, Urteil des LGH vom 22.9.2009, 312 O 411/09), dass der „Urheber tunlichst an dem wirtschaftlichen Nutzen zu beteiligen ist, der aus seinem Werk gezogen wird, und zwar bei jeder einzelnen Nutzung des Werkes“. Scheinbar umsonst kann also für die Verwerter richtig teuer werden, wenn sich die Urheber organisieren.
3.) Zum jüngsten sprachkritischen Kaleidoskop (vom 16.1.) schrieb mir der Erste Chefredakteur von ARD-aktuell, Dr. Kai Gniffke: „Vielen Dank für Ihre Mail und die Anregung in Bezug auf den „Hinterhof“. Auch wenn ich Ihre historische Herleitung nachvollziehen kann, bin ich an dieser Stelle anderer Meinung. Ich finde, dass „Hinterhof“ mittlerweile eher einen räumliche Nähe als eine Abhängigkeit bzw. Unterlegenheit ausdrückt. Insofern glaube ich, dass sich die Bedeutung tatsächlich gewandelt hat. Dennoch: Wenn eine Bezeichnung von einigen Zuschauern missverstanden wird und negativ besetzt ist, sollten wir prüfen, ob wir nicht einen anderen Terminus benutzen sollten. Ich könnte mir vorstellen, dass wir statt vom „Hinterhof“ künftig vielleicht vom „Vorhof“ sprechen“. Das finde ich einen konstruktiven Umgang mit Kritik und würde dennoch in dieser Woche die Redaktion der „Tagesthemen“ fragen, ob wir – wie es Moderator Tom Buhrow und Reporterin Tina Hassel am 20.1. taten – von Barack Obama als dem „ersten schwarzen US-Präsidenten“ sprechen sollten. Das tun sicher viele Medienvertreter, konservative wie liberale. Vielleicht mag sich ja auch die Bedeutung des metaphorischen Ausdruckes „schwarz“ in solchen Kontexten gewandelt haben – ich nenne Obama in meinen journalistischen Texten in dieser Hinsicht den ersten „afroamerikanischen“ oder „dunkelhäutigen“ US-Präsidenten. „Schwarz“ oder „farbig“ erscheint mir bestenfalls gedankenlos, eher aber versteckt rassistisch, weil man (und frau) von all dem, was bei „Schwarz-Weiß-Malerei“ mitschwingt (Schwarzfahren, blütenweiß etc.), als medienkompetenter Nutzer und Produzent nicht oberflächlich absehen sollte.

Haus ohne Hüter?

Von Sebastian Köhler
1.) Jedermann weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, dass ein Haus Hüter braucht. Das ist gut für das Haus und gut für die Hüter. Der WAZ-Konzern aber zeigt sich in dieser Woche innovativ und scheint die erste Zeitung ohne Redaktion erfinden zu wollen – die Redaktion der Westfälischen Rundschau soll geschlossen, 120 Beschäftigte entlassen werden. Der Mitgesellschafter ddvg, also die SPD-nahe Medienholding, zeigt sich enttäuscht, und der stellvertretende Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Frank Werneke, sieht nimmersattes Gewinnstreben am zerstörerischen Werk: »Durch die Übernahme von Inhalten aus anderen Häusern wird der journalistischen Vielfalt gerade im regionalen Bereich ein weiterer schwerer Schlag versetzt«, unterstreicht Werneke. Der Konzern sei keineswegs ein Sanierungsfall, die Entscheidung diene offenbar ausschließlich dem Zweck, den nicht schlechten Renditen des Konzerns einen weiteren Schub zu verleihen: »Statt in die Zukunft des Journalismus zu investieren, in den Ausbau von Online-Angeboten, in exklusive, gut recherchierte Geschichten, wird kurzfristig gedacht und entsprechend gehandelt«, kritisiert Werneke (http://www.jungewelt.de/2013/01-16/042.php, Aufruf am 16.1.2013, 08.30 Uhr). Die Inhalte für die Rundschau mit lokalem Schwerpunkt in Dortmund sollen nun aus anderen WAZ-Titeln oder sogar von der bisherigen Konkurrenz kommen. So könnte aus dem Haus „WR“ eine durchlauferhitzende Content-Hütte werden, und dann wäre es wirklich fast schon egal, ob mit oder ohne professionelle Hüter.
2.) Online-Journalismus heißt auch digitales Erzählen (vgl. Thomas Schuler „Lücke statt Link“ in BLZ, 10.1.2013, S.25). Der bei der britischen Nachrichtenagentur Reuters für Social Media zuständige Anthony de Rosa erklärte demzufolge im September 2012 im Fachjournal Columbia Journalism Review, dass journalistische Beiträge im Netz nicht einfach versuchen sollten, Elemente aus Facebook, Twitter oder Youtube beizumischen, sondern vor allem, an entscheidenden Punkten relevante Links zu integrieren. Diese sollten Zitate belegen oder Hintergründe liefern. Thomas Schuler fordert daher für das digitale Erzählen: „bei komplizierten Sachverhalten eine Entwicklung online in Erklärstücken darzulegen“.
3.) Sogenannte Soziale Netzwerke, Social Media, als spezielle Internetplattformen sollen sich von anderen Netzbereichen durch eine besondere Art von „Sharing“, durch eine bestimmte Art des Teilens also, unterscheiden als Form von Interaktivität (vgl. MMM 7/2012, S.13ff.). Freilich bezahlt hier jeder Teilnehmer die scheinbar kostenlose Nutzung mit seinen Daten, aber es lassen sich auf solchen Wegen anders und andere Gesprächspartner finden als im tradierten Journalismus. Bei Twitter als einer Art Microblogging spielen die Hashtags (#) eine zentrale Rolle, die der Markierung von Schlüsselwörtern dienen (praktischer Tipp: Diese Wörter sollten keine Leer- oder Satzzeichen enthalten). Allerdings weist Trainerin Simone Janson darauf hin, dass Journalismus durch Social Media nicht billiger werden dürfte: Das Ressourcenproblem sollte ernstgenommen werden: „An zusätzlichen Investitionen kommt man nicht vorbei.“
4.) Zum sprachkritischen Kaleidoskop: Gerade ist mit „Opfer-Abo“ (so laut Spiegel Jörg Kachelmann zu einer wichtigen Rolle von Frauen heutzutage) von der Darmstädter Jury das Unwort des Jahres 2012 bestimmt worden, da höre ich in den ARD-Tagesthemen am 15.1. 2013 von einem un-heimlichen Kandidaten für 2013: Autor Norbert Hahn spricht in seinem Hintergrund-Bericht zur Entwicklung der Krise in Mali ohne jede Ironie oder sonstige Distanzierung zur Lage im Norden Malis: „Ein islamistisches Regime ist entstanden, im Hinterhof Europas.“ Der Ausdruck „Hinterhof“ ist aus der USA-Außenpolitik der 1820er-Jahre bekannt, aus den Zeiten der „Monroe“-Doktrin, als die aufstrebende Weltmacht USA die alten Kolonialmächte, vor allem Spanien und Frankreich, intensiv aus ihrem (der USA) lateinamerikanischen „Hinterhof“ zu vertreiben begann, um die eigenen Interessensphären auszudehnen. Entweder ist der Tagesthemen-Ausdruck „Hinterhof“ hier als schon sehr subtile Kritik an der aktuellen Außenpolitik Frankreichs, Deutschlands und anderer mächtiger Länder gemeint – oder er vermittelt eine ziemlich alte Kolonial-Herren-Haltung.

Totgesagte leben länger – aus welchem Grund?

Von Sebastian Köhler

1.) Zu „aktuell“ können Journalisten last but not least werden, wenn sie vorbereitete Nachrufe vor der Zeit veröffentlichen. Kaum zu übertreffen der Klassiker dieses Genres, als im Jahre 2007 kein geringerer als der Bayerische Rundfunk einen Nachruf auf den seinerzeit nicht nur lebenden, sondern auch noch als Landesvater amtierenden Edmund Stoiber sendete. Kurz vor dem Jahreswechsel brachte Spiegel Online diese äußerst aufmerksamkeits-wirksame Darstellungsform wieder in Erinnerung: Nicht auf der Homepage, aber über hyperaktive Kanäle wie Twitter und RSS machte die „Nachricht“ die Runde, dass George Bush senior (US-Präsident von 1989 bis 1993) gestorben wäre (http://kress.de/mail/alle/detail/beitrag/119462-chefredakteur-ditz-entschuldigt-sich-spon-bringt-versehentlich-nachruf-auf-bush-senior.html, Aufruf am 9.1.2013, 11.52 Uhr). Spon-Chefredakteur Rüdiger Ditz bat um Entschuldigung, und zumindest die alte angelsächsische Journalisten-Weisheit scheint lebendiger denn je: „Get it first, but first get it right!“ Auch ihre kleine Schwester „If in doubt, leave it out!“ ist ganz klar eine Un-Tote, da wir uns fragen (lassen) müssen, inwiefern Technisierung und Ökonomisierung sich mittlerweile soweit verselbständigt haben, dass für ein Redigieren im guten alten Sinne kaum noch Zeit zu bleiben scheint – zumindest in diesem Leben.
2.) Die Meinungsforscherin Renate Köcher ist seit dem Tod von Elisabeth Noelle-Neumann 2010 alleinige Geschäftsführerin des (konservativ ausgerichteten) Instituts für Demoskopie Allensbach. Sie meint aktuell nicht nur, dass Zeitungen unterschätzt würden, sondern bietet erklärungskräftige Thesen zum Wandel von Aufmerksamkeit (als dem symbolisch-generalisierten Medium im sozialen Subsystem Öffentlichkeit): Das Internet verstärke die klare Selektion entlang nutzer-eigener Interessen. Das Interessenspektrum der nach 1982 Geborenen sei deutlich enger als das früher Geborener. Sowohl Ursache als auch Wirkung der verstärkten Internet-Nutzung (im Gegensatz z.B. zur Zeitungsnutzung ) sei, das gerade junge Nutzer in ihren Interessen „wesentlich fokussierter“ seien als andere/frühere Nutzer und sich dabei auf weniger Themen beschränkten – diesen dafür aber relativ aktiv viel Zeit und Aufmerksamkeit widmeten (vgl. BLZ 2.1.2013, S.25). Problematischer wird damit, dass privat-relevante Themen immer mehr Interesse finden, während es öffentlich-relevante Themen (Politik, Wirtschaft, Grundrechtsfragen, Wissenschaft, Umwelt) im jüngeren Mainstream immer schwerer zu haben scheinen. Das verlangt nach gesellschaftlicher Aufmerksamkeit!
3.) Zum sprachkritischen Kaleidoskop: In den ZDF-Morgenmagazin-Nachrichten war am 7.1. zu hören, Grund für Ausschreitungen von pro-britischen Demonstranten in Belfast sei ein Beschluss des Stadtrates, die britische Fahne nur noch an ausgewählten Tagen zu hissen. Anlass für mich, den Unterschieden zwischen Grund und Anlass kurz auf den Grund zu gehen: Dabei handelt es sich um Fragen der Kausalität, also um Annahmen über etwaige Ursache-Wirkung-Beziehungen. Das sprachliche Feld ist auch hier umstritten und in Bewegung, aber klar scheint mir, dass zum Beispiel sozioökonomische Ursache (oder Grund) des Beginns des Zweiten Weltkrieges eine neue Phase des Strebens des Nazi-Regimes nach Eroberungen und Weltmacht war. Als mehr oder weniger zufälliger (oder auch erst geschaffener) Auslöser oder Anlass hingegen diente der angebliche Überfall polnischer Freischärler auf den deutschen Sender Gleiwitz durch maskierte SS-Angehörige – als Vorwand.
Mit aktuellem Blick auf Belfast dürfte der umstrittene Flaggenbeschluss des Stadtparlamentes also viel eher ein Anlass für die Ausschreitungen sein denn ein ursächlicher Grund: Dieser wäre gewiss auch hier weit mehr in (veränderten) sozioökonomischen Verhältnissen zu suchen (allgemeine Krise in Großbritannien, Verlust einstiger Privilegien für den pro-britischen Bevölkerungsteil Nordirlands, Angst vor etwaiger Vereinigung mit Irland etc.). Anlässe finden sich leicht, Gründe schwerer.