(Neu-)Zugänge beim (Dazu-)Lernen

1.) Der Redaktionsleiter des „heute journal“, Dr. Wulf Schmiese, hat mir nach meiner Kritik an der ZDF-Sendung vom 26.6. mit Bernd Raffelhüschen zum Thema „Rente“ geantwortet.

Hier die Kritik im Blog

Meine Kritik habe manches für sich, zum Beispiel sei vorgesehen gewesen, auf Raffelhüschens Rolle als „Ergo“-Aufsichtsrat hinzuweisen. Bei einem etwaigen nächsten Male solle das besser laufen. Insofern – bleiben wir gemeinsam dran und sehen mit vielen Augen weiterhin und noch besser auch auf das „Zweite“.

2.) In der „Märkischen Allgemeinen“ in Potsdam las ich am 15.7. folgenden Beitrag in der Form eines Interviews mit dem Potsdamer Oberbürgermeister Jann Jakobs:

Hier geht es zur MAZ-Seite mit dem Text

Darüber hatte in der Printausgabe ein längerer informationsbetonter Beitrag zum Thema gestanden.

Ich schrieb daraufhin an die Redaktion:

„Ich lese Ihre Zeitung immer mal wieder in der Printversion und noch häufiger online – und ich wundere mich leider nicht selten über gewisse Tendenzen zur „Hofberichterstattung“ gerade bei kontroversen und wichtigen Themen in Potsdam.
Konkret die Seite 15 der Ausgabe vom Samstag, 15.7.:
Die große Überschrift lautet: Fachhochschule nicht zu retten
Das scheint kein Zitat zu sein, sondern offenbar die Meinung der Redaktion? Oder auch die der SPD-Politiker Jann Jakobs oder Klara Geywitz, die ja auf der Seite ausführlich in Wort und Bild zum Zuge kommen?
Man weiß es nicht – was ich aber weiß, ist, dass es Leute gibt, die das anders sehen.
Die Unterzeile lautet: Abrissbeschluss ist politisch und juristisch unumkehrbar
Auch das ist nicht als eine Version von wem auch immer zu erkennen – wiederum die Meinung der Redaktion?
Das ist auch deswegen spannend, weil Sie sich gewiss erinnern, dass gerade hier in Potsdam über das Stadtschloss zunächst 2006 zweimal im Stadtparlament abgestimmt wurde, jeweils GEGEN einen Wiederaufbau als Landtag. Diese beiden Abstimmungen wurden damals und werden heute in der herrschenden Diktion „gescheitert“ genannt, obwohl sie einfach nur ein bestimmtes Ergebnis hatten – KEIN Wiederaufbau. Wer das als „Scheitern“ bezeichnet(-e), macht seine Parteinahme deutlich. Erst im dritten Anlauf dann, 2007, gab es (da die Linke umschwenkte) das offenbar „richtige“ Ergebnis. Kritiker sagten damals und sagen heute, in einer bestimmten Auffassung von „Demokratie“ lasse man eben so lange abstimmen, bis das (von oben) gewünschte Ergebnis herauskomme.
Jetzt aber, mit Blick auf die Alte Fachhochschule, soll alles definitiv alternativlos sein? Kann man so sehen, muss man aber nicht …. Denn „die Demokratie“ in ihrer Reinform gibt es kaum, sondern am ehesten wohl mehr oder weniger demokratische Verfahren. Was das jeweils ist, darüber sollte in demokratisch verfassten Gesellschaften möglichst vielfältig und öffentlich debattiert werden, oder?
Mein ganz konkreter und deutlichster Kritikpunkt ist das „Interview“ von Ildiko Röd mit dem Oberbürgermeister Jann Jakobs, im afrikanischen Sansibar geführt. Es erscheint mir sehr einseitig und geradezu mitfühlend mit dem Stadtoberhaupt.
Frau Röd fragt den OB ohne Quellenangabe (als Quelle müsste die Polizei angegeben werden), dass ein Polizist verletzt worden sein soll. Sie fragt nicht (wofür es andere Quellen gibt), inwiefern Aktivisten verletzt worden sein sollen. Sie bewertet die Entwicklung als „Eskalation“, was ein klar negativ konnotiertes Wort ist. Und da den Sicherheitskräften (warum auch immer, Quellen?) „Deeskalation“ bescheinigt wird, ist klar, wer für die Zuspitzung verantwortlich ist laut Frau Röd. Sehr fragwürdig.
„Bis Sonntag ist ein Protestcamp angemeldet. Macht Ihnen das Sorgen?“ fragt Frau Röd, wiederum sehr wertend. Sie hätte auch relativ sachlich fragen können: „Wie sehen Sie das?“ oder auch „Wie bewerten Sie das?“. Am deutlichsten kommt die (wahrscheinlich sogar unbewusste) Parteinahme der MAZ-Reisenden aber zum Ausdruck in der Formulierung: „Befürchten Sie, dass sich ähnliche Vorfälle in Zukunft wiederholen könnten?“ Das ist eine unglaublich klare Bewertung, denn „befürchten“ bezieht sich immer auf deutlich Negatives. Konstruktiv anders formuliert (ich arbeite auch in der Branche): „Erwarten Sie, dass sich ….?“ oder auch „Gehen Sie davon aus, dass …?“
Dass Frau Röd dann auch noch die Vielfalt der Kritiker des OB-Kurses alle in einen Topf wirft mit der Formulierung „die Kritiker sagen ….“ – geschenkt im Lichte der anderen Fragwürdigkeiten.

Woran fehlt es dem Beitrag meines Erachtens? Ich denke, an einer grundsätzlichen, professionellen Distanz zu Person und Gegenstand des Interviews. Alternativen tauchen praktisch nicht auf (außer der, dass „im Vorfeld“ noch mehr für „die Sicherheit des Gebäudes“ hätte getan werden sollen). Frau Röd fragt leider so gar nicht kritisch nach.

Könnte das womöglich (mal auf die Strukturen geschaut) auch daran liegen, dass sie auf Kosten der Stadtverwaltung mit im Reisetross des OB unterwegs ist? Oder sollte die Unabhängigkeit der journalistischen Bericherstattung insofern gewährleistet sein, als die MAZ komplett die Reise von Ildiko Röd bezahlt?

Gerade weil ja der eine oder andere Pressesprecher der Stadt vor dem Job im Rathaus als Journalist tätig war, sollte meines Erachtens der Eindruck gar nicht erst aufkommen dürfen, dass Beiträge wie dieser auf mich eher als Beispiele von Auftragskommunikation wirken denn als Journalismus.

Oder mal ganz bewusst polemisch formuliert: Wer solche Journalisten im Schlepptau hat, der braucht keine Pressestelle (mehr). Und mit Blick auf die Vertrauenswürdigkeit journalistischer Medien: Da könnten wir doch gleich den Newsletter aus dem Rathaus abonnieren. Die werden ja mittlerweile von den Profis jener Branche auch schon in Dialogform angeboten, wegen der besseren Lesbarkeit ….

Was meinen Sie? In der Hoffnung auf eine konstruktiv-kritische Debatte verbleibe ich mit freundlichem und kollegialem Gruß….“

Darauf schrieb mir der stellvertretende Chefredakteur der MAZ, Henry Lohmar:

„(…) haben Sie vielen Dank für Ihr Schreiben, das von profunder Kenntnis sowohl der Potsdamer Verhältnisse als auch der Regeln professioneller journalistischer Berichterstattung zeugt. Sie haben einige wichtige Punkte angesprochen, auf die ich gerne eingehen will. Der wichtigste, darum gleich am Anfang: Unsere Redakteurin Ildiko Röd ist nicht auf Kosten der Stadtverwaltung nach Sansibar gefahren, sondern auf Kosten der MAZ. Sowohl der Flug als auch die Unterkunft werden vom Verlag bezahlt. Darauf haben wir im Vorfeld großen Wert gelegt, um eben nicht den Verdacht zu nähren, wir betrieben Hofberichterstattung. Ihren, wie Sie selbst sagen, polemisch formulierten Satz „Wer solche Journalisten im Schlepptau hat, der braucht keine Pressestelle mehr“ möchte ich feundlichst, aber bestimmt zurückweisen.

Nun zu Ihrer Kritik an unserer Berichterstattung: „Fachhochschule nicht zu retten“ – ist diese Überschrift nachrichtlich gedeckt? Streng genommen nein, da bin ich bei Ihnen, denn weder ist das ein Zitat eines Protagonisten aus dem Text, noch sind die Bagger bereits angerückt. Ein anderes Szenario ist also theoretisch auch noch denkbar. Aber wenn Sie den Text anschauen – Ihnen als Dozent und Kenner der Materie muss ich das eigentlich nicht sagen – , dann sehen Sie, dass es sich hierbei um ein erklärendes Hintergrundstück in Frage- und Antwort-Form handelt, keine Nachricht im engeren Sinne. Die Nachricht des Tages zur FH steht auf der Titelseite der Potsdamer Ausgabe, wie Sie sicherlich gesehen haben. Das Stück im Lokalteil dient der Ergänzung und Vertiefung. Die Überschrift bezieht sich ganz klar auf die geltende Beschlusslage, ist mithin eine Beschreibung des juristischen Status quo. Ob dieser „unumkehrbar“ ist – darüber kann man streiten. Daher, auch das räume ich ein, lehnen wir uns mit der Unterzeile sehr weit aus dem Fenster.

Ihr Einwand, es habe auch beim Stadtschloss mehrere Abstimmungen gegeben, ist richtig. Aber was heißt das für uns bei der Berichterstattung? Sollen wir den demokratisch zustande gekommenen Beschluss zum Abriss der FH negieren, nur weil zukünftig ja vielleicht noch mal anders entschieden werden könnte?

Das Interview mit dem OB: Ihre Anmerkungen kann ich nur zum Teil nachvollziehen. Hätte man kritischer nachfragen können? Sicher, auch wenn ich bis jetzt noch nicht mit Frau Röd über die Begleitumstände sprechen konnte (die wiederum für den Leser natürlich keine Bedeutung haben). Der Einstieg „Wie bewerten Sie die Ereignisse“ ist jedoch absolut neutral formuliert, ob der OB sich wegen des Protestcamps „Sorgen macht“, ist eine Frage, die durchaus nahe liegt, und deren bejahende Beantwortung sogar einen gewissen Nachrichtenwert gehabt hätte. „Eskalation“ bedeutet Zuspitzung, und das ist ja wohl angesichts der Ereignisse vom Donnerstag nicht übertrieben formuliert. Dass Frau Röd den OB mit einem zentralen Punkt der Kritiker konfrontiert, nämlich dem, das Projekt am Alten Markt werde „einfach durchgedrückt“, wischen Sie nonchalant weg.

Ich will Ihre Kritik damit nicht komplett zurückweisen, aber ich lese in ihr auch eine deutliche Sympathie mit dem Anliegen der Besetzer. Das ist völlig legitim. Was aber sehr schade wäre: Wenn sich bei Ihnen der Eindruck verfestigte, die MAZ würde im Streit um die Bebauung der historischen Mitte einseitig und noch dazu unter Missachtung journalistischer Standards berichten.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch einen anderen Beitrag aus der MAZ ans Herz legen, der ebenfalls am Samstag erschienen ist. Er schildert die Auseinandersetzung um die architektonische DDR-Moderne in Potsdam aus einer distanzierten Perspektive und ist in unseren Nicht-Potsdamer Ausgaben erschienen:
http://t.maz-online.de/Brandenburg/Wie-viel-DDR-Architektur-vertraegt-Potsdam

Ich verspreche Ihnen: Wir bleiben dran am Thema und werden sachlich und kritisch berichten, wie es unsere Aufgabe ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie uns als kritischer Leser erhalten blieben. Melden Sie sich gerne bei mir, wenn Sie Fragen oder Anmerkungen los werden wollen. Ich freue mich.

Mit den besten Grüßen …“

Worauf ich wiederum an Henry Lohmar schrieb:

„(…) vielen Dank für Ihre rasche und ausführliche Reaktion auf meine Zeilen.

Ich freue mich, dass Sie einige meiner Kritikpunkte nachvollziehen können. Und natürlich sollten wir Journalisten geltende Beschlusslagen nicht schlicht „negieren“, aber eben auch nicht einfach „absolut“ setzen. Sondern, wie so oft im Leben, möglichst differenziert betrachten. Da dürften wir wieder dicht beiander liegen.

Die heutigen Zeilen zum Thema im Blatt kann ich übrigens gut nachvollziehen im Sinne von Objektivierung der Ereignisse. Und das in diesem Fall, wie Sie ebenfalls ganz richtig einschätzen, mit (und nicht trotz oder wegen) einer gewissen Sympathie für die Anliegen der Leute von „Stadtmitte für alle“.

Eine „MAZ“ für möglichst viele Potsdamerinnen und Potsdamer, Nutzerinnen und Nutzer ist doch ein sinnvolles Ziel ….“

Was lehrt das womöglich? Wenn Medien und Nutzer vergleichsweise sachlich und auf Augenhöhe miteinander kommunizieren, lässt sich manches lernen und manches ändern.

3.) ZDF-Börsenexperte Frank Bethmann sprach jüngst wieder einmal davon, dass eine bestimmte Aktie einen „Dazu-Gewinn“ erzielt habe. Klar, das ist wichtig zu sagen und zu wissen, denn es gibt ja auch „Hinweg-Gewinne“ und sogar „Null-Gewinne“. Oder wären all das eher „Blasen“, die es ja in der Finanzwelt auch nicht zu knapp geben soll? „Doppelt gemoppelt“ muss nicht sein. Deshalb an dieser Stelle ein großes Lob an die „Berliner Zeitung“, Ressort Sport: Dort stand am 24.7.2017 auf Seite 19 im Beitrag von Maik Rosner über den FC Bayern etwas zu den „Zugängen Niklas Süle und Sebastian Rudy“ aus Hoffenheim. Spinnen die dort bei der BLZ? Fast alle anderen schreiben doch gefühlt seit Jahrhunderten von „Neuzugängen“, wenn Sportler zu einem anderen Verein wechseln.

Aber in der Tat: Hier einfach von „Zugängen“ zu schreiben, wäre ein Gewinn, pardon: „Dazu-Gewinn“.

Journalismus und Auftragskommunikation – eine Seite derselben Medaille?

1.) Der G20-Gipfel in Hamburg bot viel Stoff zum Denken und Diskutieren sowie für mich hier den Anlass für einen Offenen Brief als Mail an den Leiter der Redaktion „ARD aktuell“ in Hamburg, Dr. Kai Gniffke:

Sehr geehrter Herr Dr. Gniffke,

in Ihrer Eigenschaft als Leiter von ARD-aktuell schreibe ich Ihnen hier wieder einmal, also als Verantwortlichem von „tagesschau“ etc.

Ich habe mich sehr gewundert, dass die bekannte Tagesschau-Nachrichtensprecherin Linda Zervakis am 6.7. in Hamburg neben Barbara Schöneberger die Pop- und Politik-Show „Global Citizen“ in der Barclay-Card-Arena moderiert hat, siehe hier den Hinweis der ARD auf das Ereignis:

Hier geht es zum ARD-Hinweis auf das „Event“

Ich finde, gerade angesichts der Diskussionen um die Vertrauenswürdigkeit journalistischer Medien und insbesondere der öffentlich-rechtlichen Medien hierzulande ist diese Vermischung von Journalismus und Auftragskommunikation zumindest problematisch.

Ist es wahrscheinlich, dass dieselbe Linda Zervakis, die gerade noch auf der Bühne dem Event-Erfinder Hugh Evans aus Australien zugejubelt hat, in der (nächsten) Tagesschau sachliche oder gar kritische Worte (als Zitat von Kritikern) gegenüber diesem „Event“ vortragen könnte? Also: vertrauenswürdig vortragen könnte?

Viele mögen ja diese Party als die „gute“ Seite des G20-Gipfels sehen. Aber man muss das sicherlich nicht so wahrnehmen. Wenn Politiker wie Olaf Scholz oder Gordon Brown auftreten und ihre Botschaften inmitten von Popstars verkünden, muss man das nicht unbedingt gut finden oder gar bejubeln.

Was meinen Sie? Warum hat sich offenbar Ihr Team entschieden, Frau Zervakis in dieser Rolle auftreten zu lassen?

Ich denke im Sinne von Parallelen an die Zeiten zurück, als die ARD als Sponsor des Radsport-Teams „Telekom“ Jan Ulrich und die Tour de France „bejubelt“ hat, bis Dopingkrisen deutlich wurden. Das Strukturproblem ist meines Erachtens das gleiche: Eine höchst fragwürdige Vermischung von Journalismus und Auftragskommunikation. Zur Vertrauenswürdigkeit der öffentlich-rechtlichen ARD dürfte das kaum beitragen.

Wie Sie wissen, finde ich es weiterhin sehr wichtig, dass es nicht nur privat-rechliche Medien in Deutschland gibt. Aber dann sollten sich die öffentlich-rechtlichen Medien doch bitte auch auf ihren Grundversorgungsauftrag für alle konzentrieren, oder?

In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich mit freundlichen Grüßen: Sebastian Köhler

2.) Sprachkritisch fiel mir der Aufmacher der Zeitungen des Redaktionsnetzwerkes Deutschland (aka „Madsack-Gruppe“) auf, am Samstag, 8.7.2017, hier in der Version der MAZ, der Märkischen Allgemeinen in Potsdam. Im langen Bericht von Werner Herpell mit dem Titel „Gewalt überschattet Gipfel-Auftakt“ tauchen nur zwei Arten von Quellen auf: Regierungspolitiker und Polizei. Und diese strukturelle Einseitigkeit bestimmt auch sprachliche Aspekte: Versionen werden NICHT als Versionen gekennzeichnet, sondern als klare Wahrheit vermittelt.

Zwei Beispiele:

„Die Polizei ging davon aus, dass rund 1500 Randalierer schwere Straftaten gegen Einsatzkräfte vorbereiten“. Woher weiß der Berichterstatter das? Wahrscheinlich, weil es Polizeivertreter GESAGT haben. Wovon die Polizei letztlich und wirklich ausging – wer weiß das schon?

Zweites Beispiel: „Der Hamburger Polizeipräsident Ralf Meyer rechnete mit weiteren gewaltsamen Protesten“.
Es wird leider nicht besser – wenn der Journalist erneut den Eindruck erweckt, in Köpfe hineinschauen und Gedanken lesen zu können. Und damit auf seine Weise auf dem Weg scheint, Journalismus und Auftragskommunikation unprofessionell zu vermischen.

Jetzt wird es kritisch …. Raffelhüschen, Kleber – und wer zweifelt, ob das so lauten muss?

1.) Zum Thema „Medienkritik“, heute etwas ausführlicher und auch subjektiv, fast schon ein „heute journal“ (wenn der Scherz hier gestattet ist):

Am Montag, 26.6., bestimmte ein Report der Bertelsmann-Stiftung zum Thema „Rente“ die Medien hierzulande mit, die Hauptaussage des Reportes lautete: 2035 drohe ca. jedem fünften Rentner in Deutschland Altersarmut. Ich dachte mir an jenem Morgen: Wenn das nun schon die Bertelsmann-Stiftung schreibt, nicht gerade bekannt als eine links-gesellschaftskritische Einrichtung, dann scheint gewissermaßen bereits die „K. am Dampfen“ zu sein. Am Abend war ich allerdings in ganz anderer Hinsicht überrascht, als ich zum Thema auch ein Interview von Claus Kleber mit Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen im „heute journal“ sah.

Hier geht es zum Interview aus der ZDF-Mediathek

Mit etwas Abstand betrachtet, schrieb ich am 29.6. folgende Zeilen an das ZDF (ich kenne und schätze den heutigen Redaktionsleiter des „heute journal“, Dr. Wulf Schmiese, durch viele kritische und selbstkritische Diskussionen mit Studierenden in Berlin seit 2010)

Sehr geehrte Damen und Herren von der ZDF-Zuschauerredaktion, lieber
Herr Schmiese,

seit Montagabend ist etwas Zeit vergangen, weil ich die Causa noch
einmal in Ruhe überdenken wollte.

Aber ich bleibe dabei (und anscheinend geht es nicht wenigen Leuten so):
Ich frage mich, inwiefern Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen mit Blick auf
die aktuelle Rentendiskussion als einziger Experte am Montagabend im
ausführlichen Interview über mehr als vier Minuten lang praktisch
unbedrängt zu Wort kommen konnte. Er ist doch seit vielen Jahren bekannt
dafür (und wird auch kritisiert dafür), dass er nicht zuletzt als
ERGO-Aufsichtsrat und als deutlicher Lobbyist für die INSM oder auch in
anderen Kontexten für die Privatisierung der Rente in Deutschland steht
– und damit für die weitere Schwächung der gesetzlichen Rente
hierzulande. Davon war am Montagabend nicht die Rede, er wurde als
unabhängiger Fachmann und Wissenschaftler präsentiert.

Wenn man sich an die ZDF-Sendung „Die Anstalt“ vom 4.4. 2017 erinnert,
bleibt all das umso weniger verständlich. Denn gerade die Herren
Riester, Rürup, Maschmeyer und eben auch Raffelhüschen scheinen doch
sehr klar für eine bestimmte (und von vielen mittlerweile kritisch
betrachtete) Perspektive in der Rentendebatte zu stehen.

Ich finde das einseitige Auftreten von Raffelhüschen am Montagabend sehr
bedenklich – zumindest hätte m.E. auf diese Aspekte Prof. Raffelhüschens
hingewiesen werden müssen, oder es hätte auch eine andere Sichtweise zu
Wort kommen sollen zum Thema.

Raffelhüschen & Co. beschwören mit Blick auf die gesetzliche Rente seit
vielen Jahren eine angebliche demographische Krise gleichsam als
Naturgesetz, ohne ein Wort zum Beispiel über die steigende Produktivität
unser aller Arbeit zu verlieren.

Ich habe Claus Klebers Twitter-Äußerungen als Reaktion auf offenbar
massive Kritik gelesen und finde diese alles andere als überzeugend:
Natürlich sagt Raffelhüschen nun (wie ähnich ja auch Frau Merkel und
Herr Lindner), man solle bei der gesetzlichen Rente jetzt bis 2030 alles
so laufen lassen, wie es angeschoben wurde – außer unbedingt noch das
Renteneintrittsalter einen nächsten Schritt heraufsetzen! Also in
Richtung weiterer Absenkung des Rentenniveaus. Das alles erscheint mir
sehr deutlich von neoliberaler Ideologie geprägt. Soll offenbar
Versicherungen und Banken in Zeiten niedriger Zinsen weitere
Geschäftsfelder garantieren ….

Summa summarum: Sehr, sehr problematisch das Ganze, aus meiner Sicht.

Ich hoffe, Sie können meine Kritik nachvollziehen, und ich freue mich
auf Ihre Antwort!

Mit besten Grüßen: Sebastian Köhler

Einen Tag später erhielt ich vom ZDF folgende Zeilen per Mail:

Sehr geehrter Herr Köhler,

vielen Dank für Ihre E-Mail an das ZDF.

Die neue Bertelsmann-Studie zur Zukunft der Rente in Deutschland ist am 26. Juni das bestimmende Thema unserer aktuellen Berichterstattung im „heute-journal“ gewesen. Dazu haben wir Prof. Bernd Raffelhüschen, einen profilierten Wirtschaftswissenschaftler, nach seiner Einschätzung der Situation und den Perspektiven für die nächsten Jahrzehnte befragt. Er hat dabei betont, dass das gegenwärtige Rentensystem durchaus tragfähig wie gerecht ist und die Erwartung, dass künftig mehr Menschen mit Rente in Altersarmut geraten werden, seiner Meinung nach sehr gering ist. Um Altersarmut zu verhindern, sei es außerdem sinnvoll, das Rentenalter in absehbarer Zeit maßvoll anzuheben.

Bernd Raffelhüschens Tätigkeit für Versicherungsunternehmen, hier vor allem seine Position als Aufsichtsrat der ERGO, ist uns allerdings bekannt gewesen, stellt aber nicht seine Glaubwürdigkeit in Frage. Er hat in unserem Gespräch tatsächlich ganz anders argumentiert, als es ein Interessenvertreter der Versicherungsbranche getan hätte. Und seine Argumentation ist aus unserer Sicht durchaus schlüssig und verständlich gewesen.

Ihre Kritik an Bernd Raffelhüschens Darstellung, die Ihnen wirklichkeitsfern erscheint, haben wir als Teil der Zuschauerresonanz auf unser Programm festgehalten.

Mit freundlichen Grüßen
Ihre ZDF-Zuschauerredaktion

Mit wiederum etwas Abstand betrachtet, also jedenfalls nicht im Affekt, schrieb ich am 4.7. dann noch einmal an das ZDF, an Herrn Dr. Schmiese und an Herrn Kleber:

Sehr geehrte Damen und Herren beim ZDF, Dank für Ihre Zeilen. Allerdings kann ich überhaupt nicht verstehen, wie Sie argumentieren: Sie schreiben (wie auch Moderator Claus Kleber twitterte):

> Bernd Raffelhüschens Tätigkeit für Versicherungsunternehmen, hier vor allem seine Position als Aufsichtsrat der ERGO, ist uns allerdings bekannt gewesen, stellt aber nicht seine Glaubwürdigkeit in Frage. Er hat in unserem Gespräch tatsächlich ganz anders argumentiert, als es ein Interessenvertreter der Versicherungsbranche getan hätte. Und seine Argumentation ist aus unserer Sicht durchaus schlüssig und verständlich gewesen.
>
Zwei Punkte meiner Kritik als die wichtigsten an der Stelle:

1.) Das ZDF hätte im Sinne von Transparenz und Einordnung für das Publikum ZUMINDEST deutlich machen müssen, dass Raffelhüschen gerade mit Blick auf dieses Feld „Rente“ eben nicht nur Professor in Freiburg ist, sondern auch in anderer Hinsicht aktiv war und ist.

2.) Wenn Sie mich (und sicher viele andere halbwegs Aufgeklärte hierzulande) fragen: Raffelhüschen hat GENAU SO geredet, wie es von einem Lobbyisten der Privatisierungstendenz mit Blick auf die Rente JETZT zu erwarten ist: Bei der gesetzlichen Rente sei nun im Großen und Ganzen alles in Ordnung, dank der Reformen der Regierungen Schröder und Merkel. Gut wäre es sicher, das Renteneintrittsalter noch weiter heraufzusetzen.

Das heißt im Klartext (und das lesen mittlerweile immer mehr Leute Schritt für Schritt in ihren Rentenauskünften und -bescheiden): Bei einem absehbaren gesetzlichen Rentenniveau von nur noch 43 Prozent des Durchschnittsverdienstes MÜSST IHR EUCH (selbst wenn Ihr Euer ganzes Berufsleben hindurch regelmäßig eingezahlt habt) ZUMINDEST ZUSÄTZLICH PRIVAT RENTENVERSICHERN.

Hatten Sie ernshaft erwartet, jemand wie Raffelhüschen wäre so unprofessionell, nun auf den Zustand der gesetzlichen Rente zu schimpfen? Jetzt, da vieles ja genau so läuft, wie er und seinesgleichen das seit spätestens 1998 fordern?

Sorry, aber solche „Argumente“ kann ich nur schwer ernstnehmen. Ähnlich wie die Plattitüde, dass Rentenkürzungen nötig wären, weil immer weniger Berufstätige immer mehr Rentner mit „durchzufüttern“ hätten. Wo bleibt da der Aspekt unserer wachsenden Arbeitsproduktivität? Sie kennen vielleicht eine vergleichbare „Argumentation“: 1850 hat ein Bauer zwei Menschen ernährt. 1950 hat ein Bauer bereits 40 Menschen ernährt. Heute ernährt ein Bauer 133 Menschen. Was folgt daraus? Natürlich, dass wir bald alle verhungern werden.

Im Ernst: Ich bitte Sie herzlichst darum, uns als Ihr Publikum und als Ihre Beitragszahler ernster zu nehmen! Denn in der Tat befindet sich unsere Gesellschaft wohl in sozialen und auch medialen Umbrüchen.

Ich würde sehr gerne das öffentlich-rechtliche Prinzip auch hier gegen die Privatisierungstendenzen weiter verteidigen – bei aller Kritik. Aber solche Beiträge UND IHRE REAKTIONEN auf Kritik wie meine machen das, gelinde gesagt, nicht gerade leichter!

In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich mit freundlichem Gruß: Sebastian Köhler

Redaktionsleiter Dr. Wulf Schmiese hat mir gerade per Mail geschrieben, dass wir uns nach dem G20-Gipfel dazu noch einmal in Ruhe austauschen sollten. Das würde mich sehr freuen! Bleiben wir gemeinsam dran!


Ich weiß nicht, ob das hier noch gelesen wird … Man mag bezweifeln, dass es passiert.

2.) Noch etwas leichtere Kost aus dem Regal „Kaleidoskop“, also Sprachkritik: Im RBB-Inforadio wurde am 15.11.2016 um 21.12 Uhr in einem Bericht zum Obama-Besuch gesagt: „Viele Griechen bezweifeln allerdings, ob das unter Donald Trump so weitergeht.“ Ich denke, hier sollte es „zweifeln“ heißen, und das Wort „ob“ lässt es in der Waage, inwiefern es weitergeht. „Bezweifeln“, sofern es nicht gleichbedeutend ist mit „zweifeln“, jedoch scheint mir schon stärker, weshalb ich sagen würde: „Viele Griechen bezweifeln allerdings, dass das unter Donald Trump so weitergeht.“ Ein anderes Beispiel, um den Unterschied zu verdeutlichen: „Er weiß nicht, dass Du kommst“ geht von dem Fakt des Kommens aus. „Er weiß nicht, ob Du kommst“ lässt die Wahrscheinlichkeit des Kommens im Ungefähren, vielleicht bei etwa 50 Prozent.