1.) Jay Rosen, ein bekannter US-Journalist und Journalistik-Professor in New York ähnlich wie Jeff Jarvis, hat dieser Tage über Twitter ein spannendes Plädoyer gehalten (https://storify.com/jayrosen_nyu/evidence-based-vs-accusation-driven-reporting, Aufruf am 30.11.2016, 13.20 Uhr; auch hier Dankeschön für Hinweise und Diskussionen an meinen Kollegen und Freund Henrik Bortels). Journalisten sollten nicht nur etwaige sachliche „Fakten“, sondern auch Vorwürfe oder Anklagen NICHT einfach verbreiten, auch dann nicht (bzw. gerade dann nicht), wenn sie von vielen oder berühmten Leuten geäußert werden. Rosen bezieht sich auf Apple News und US Today, die Vorwürfe verbreiteten, dass Milliardär George Soros einer der Drahtzieher von Protesten gegen den Wahlsieg Donald Trumps gewesen sei.
Aber was ist „die Wahrheit“?
Oder zumindest: Wie können wir ihr näher kommen? Es wäre naiv, dabei anzunehmen, dass wir einfach „die Realität“ objektiv spiegeln oder abbilden könnten. Vielmehr geht es um Objektivierung durch intersubjektive Überprüfung, wobei Perspektivenwechsel, Transparenz und Außenreferenz wichtige Aspekte sind und bleiben. Aber es gibt Neues zum Thema „Fakten-Check“. Das Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford (vgl. http://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/news/rise-fact-checker-%E2%80%93-new-democratic-institution, Aufruf am 30.11.2016, 16.51 Uhr) geht der Frage nach, inwiefern die aufsteigenden selbsternannten „Fact checker“ als neue demokratische Institution gelten können. „The report argues that independent fact-checking can help combat misinformation in public life, provided they can find funding for their work, either as parts of existing news media or as NGOs and provided that their work reach a wide audience—often through collaboration with existing news media.“
Post-Faktisch oder Telekom-Faktisch?
Die Autoren erklären, dass es seitens der Trump-Kampagne während des US-Wahlkampfes „often gross distortions of the truth“ gegeben habe. Die Rede vom „Post-Faktischen“ oder vom „Post-Wahren“ ist ja spätestens seit dem EU-Referendum der Briten nicht zu überhören. “We found that there was more newsroom-based fact checking in Western Europe and more NGO-based fact checking in Eastern Europe,” äußert einer der beiden Hauptautoren der Studie, Lucas Graves. “The fact-checkers themselves identify in different and sometimes multiple ways. Many see themselves as reporters, but others identify as activists or experts, and in some cases two or all three of these.” Hier scheint mir ein spannender Aspekt von Konvergenz zu beobachten, allerdings offenbar genau auf einer Seite des sozialen Spektrums, polemisch gesagt: auf der „guten“. Da darf der Reporter auch gerne Experte oder eben Aktivist sein. Die Lügner oder Populisten aber stehen auf der anderen Seite, was die Spaltung der Gesellschaft im Sinne von Divergenz zu unterstreichen scheint.
Extremismus der Mitte
Hier wünsche ich mir mehr Problembewusstsein und Selbstkritik seitens der etablierten Medien und Wisenschaft – eine Renaissance von jeweils professioneller Neugier auf „die Anderen“, gerne ja (von oben herab) auch „die Abgehängten“ genannt. Und es ist ja kein Geheimnis: Trump oder Wilders oder Gauland etc. mögen „divergent“ sein, aber doch keinesfalls abgehängt. Sie kommen in gewisser Weise aus der Mitte ihrer Gesellschaften und vertreten daher einen Extremismus der Mitte. Deswegen erscheint mir das Schema viel zu vereinfachend: Hier die gute Mitte, dort rechts und links die populistischen, extremistischen Ränder. Ein kluger Mensch wie Max Horkheimer hatte 1939 kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, das vom Faschismus schweigen solle (Jeff Jarvis nennt Trump ja schon „Faschist“), wer vom Kapitalismus nicht reden wolle. Das finde ich heute wieder sehr erklärungskräftig.
Kennen, brennen, rennen
2.) Im Kaleidoskop kommen wir kurz zur Kunst des Konjunktivs (nicht der Alliteration): Wir hatten neulich eine Diskussion, wie der Konjunktiv II von kennen heißt: Gibt es die doch etwas schräg klingende Form „kennte“? Der Verein „Gesellschaft für deutsche Sprache“ (GfdS) aus Wiesbaden schreibt dazu (http://gfds.de/kennen-konjunktiv-von/; Aufruf am 30.11.2016 um 12.30 Uhr) schreibt dazu, „kennte“ sei eine korrekte deutsche Verbform, die seit Jahrhunderten belegt ist, unter anderem bei Goethe, Schiller und Schopenhauer. Allerdings kommt laut GfdS diese From selten vor – meist werde mit „kennen würde“ umschrieben. Andererseits können wir schriftsprachlich und niveauvoll sicher „kennte“ verwenden, wie übrigens auch „brennte“ und „rennte“ von den entsprechenden Verben „brennen“ und „rennen“