Fake-Reportagen aus der Mitte des Stromes

„An einem späten Januarabend, der Himmel über Joplin, Missouri, ist ohne Mond, verlässt eine kleine zierliche Frau ihr Haus, um einen Mann, den sie nicht kennt, sterben zu sehen. Sie verriegelt die Tür, dreht den Schlüssel dreimal um, dann geht sie eine menschenleere Straße entlang, zum Busbahnhof. Sie besorgt sich ein Greyhound-Ticket für 141 Dollar nach Huntsville, Texas, und zurück. Sie hat nur eine Handtasche und einen leichten Rucksack mit einer Bibel, einer Zahnbürste und ein paar Keksen als Proviant dabei. Gayle Gladdis, 59, eine Frau mit schulterlangem Haar und Perlenohrringen, plant, nicht länger als 48 Stunden unterwegs zu sein, um das Böse aus der Welt zu schaffen.“

Ein typischer Einstieg in einen Spiegeltext, der wohl eine Reportage sein soll. Wie so oft mittels „szenischer Rekonstruktion“. Erschienen im Spiegel am 3.3.2018 und so richtig bekannt geworden dann ab dem 19.12.2018 (Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/der-fall-claas-relotius-wie-das-spiegel-sicherungssystem-an-grenzen-stiess-a-1244593.html, Aufruf 19.12.2018, 20.33 Uhr).
Denn der Text stammt von Claas Relotius und soll die US-Amerikanerin Gayle Gladdis beschreiben, die durch die USA reist, um dabei zuzusehen, wie Menschen durch Giftspritzen von Staats wegen hingerichtet werden. Die Spiegelführung schreibt dazu: „Gayle Gladdis, so sagt es zumindest Relotius, gibt es. Aber Relotius hat sie nur einmal getroffen, für 20 Minuten vor dem Gericht, in dem die Hinrichtung stattfindet. Er war nie bei ihr zu Hause, die Einstiegsszene an der Haustür hat er erfunden, wohl auch ihre Biografie.“

So weit, so schlecht. Aber ist es nicht fragwürdig, den sich jetzt abzeichnenden Skandal um mutmaßlich viele gefälschte Reportagen und andere Beiträge im Spiegel auf etwaige Persönlichkeitsdefizite des bisherigen Star-Reporters Relotius zu reduzieren? Wäre das nicht billiges Sündenbock-Bashing?

Der designierte Print-Chefredakteur Ullrich Fichtner wird zitiert (Quelle: https://meedia.de/2018/12/19/der-eine-getuerkte-text-zuviel-spiegel-trennt-sich-von-reporterpreis-traeger-claas-relotius-wegen-betrugsverdacht/ Aufruf 19.12.2018, 21.45 Uhr) und macht wohl nolens volens einige der Strukturprobleme deutlich, die auch (und vielleicht gerade) ein so etabliertes Medium wie den „Spiegel“ zu betreffen scheinen:

„Als Redakteur, als Ressortleiter, der solche Texte frisch (frisch? Sind wir hier an der „Frischetheke“? SeK) bekommt, spürt man (also er, SeK) zuerst nicht Zweifeln nach (zweifellos eine effiziente Einstellung, SeK), sondern freut sich über die gute Ware (in der Tat: Es geht um Warenproduktion wie im ganz ordinären Kapitalismus. Offenbar möglichst billig und schnell – und dennoch gut erscheinend, SeK). Es geht um eine Beurteilung nach handwerklichen Kriterien (welche immer das auch sein mögen, SeK), um Dramaturgie (Drama sells, SeK), um stimmige Sprachbilder (das lesen wir jetzt immer wieder: Diese Text seien so elegant, geradezu suggestiv gut geschrieben, das spreche einfach für sich, SeK), es geht nicht um die Frage: Stimmt das alles überhaupt? (Klar, Fake News machen ja immer die anderen – also die Bösen da draußen, SeK). Und dieser Relotius liefert immer wieder hervorragende Geschichten (märchenhaft glaubwürdig sozusagen, SeK), die wenig Arbeit (das erhöht Umsatz und Gewinn, SeK) und viel Freude (Entertainment wollen die Leute haben! SeK) machen.“

Ich finde, dieser Text vom künftigen Text-Chef des „Spiegel“ kann deutlich machen, dass in gewisser Weise „der Fisch vom Kopf stinkt“. Also von den Strukturen her. Hauptsache, die Fassade stimmt. Dahinter verbirgt sich meines Erachtens eine explosive Mischung von Selbstüberschätzung und struktureller Überforderung. Auch beim „Spiegel“ bräuchte es mehr und bessere Ressourcen, aber auch mehr Selbstkritik, um dem tendenziellen Durchwinken von nicht-journalistischen Beiträgen (seien es Fake-Reportagen, seien es PR-lastige Texte) zumindest entgegenwirken zu können. Solange Strukturprobleme wichtiger Medien aber auf kranke oder auch böse Einzeltäter (Michael Born, Tom Kummer, Jason Blair, Claas Relotius) abgewälzt werden, wird die Show weitergehen – aber eher als Koloss auf tönernen Füßen. Besserer Journalismus ginge anders!

l2.) Zum sprachkritischen Kaleidoskop: Der bereits erwähnte Ullrich Fichtner, künftiger Text-Chef des „Spiegel“, wird nochmals zitiert (https://meedia.de/2018/12/19/der-eine-getuerkte-text-zuviel-spiegel-trennt-sich-von-reporterpreis-traeger-claas-relotius-wegen-betrugsverdacht/, Aufruf 19.12.2018, 22.09 Uhr):

„An “Jaegers Grenze” wird Relotius scheitern. Es ist der eine getürkte Text zuviel, weil er diesmal einen Co-Autoren hat, der seinen “Quatsch” nicht mitmacht, der Alarm schlägt und bald Fakten gegen die Fiktionen sammelt.“

Genau – solche Texte sind wahlweise „gelinkte“ oder eben „getürkte“. Das Böse ist immer und überall, aber es kommt von der anderen Seite oder eben von ganz weit draußen. Mag es ein erkenntnispraktischer „blinder Fleck“ sein – Rassismus ist das natürlich nicht, sondern der ganz normale deutsche Sprachgebrauch, hier in der Spiegel-Chefetage. Wäre ja auch wenig unterhaltsam, schlicht vom „gefälschten Text“ zu schreiben. „Frisches“ (s.o.) Texten á la Fichtner scheint anders zu gehen.


Sie ahnen nicht einmal, was sie nicht wissen

Zwölf Tage nach meiner Kritik an den ARD-„Tagesthemen“ zum Thema „100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland“ antwortete der Publikumsservice von ARD-Aktuell. Die KollegInnen aus Hamburg schreiben (versuchend, meine Kritik zusammenzufassen): „Ihrer Meinung nach (fehlt) der Blick auf die DDR-Geschichte.“

Nein, „der Blick“ hatte ich nicht geschrieben, weil es „DEN“ Blick kaum geben kann. Es fehlte überhaupt EIN Blick auf die oder aus der DDR-Geschichte, obwohl es ja um so wichtige Themen wie Schwangerschaftsabbruch und Erwerbstätigkeit von Frauen ging, die in DDR und BRD doch ziemlich verschieden erfahren wurden.

Dann meint man, mich mit politischen Allgemeinplätzen belehren zu müssen, um die es erstens sowohl in den TV-Beiträgen als auch in meiner Kritik gar nicht ging und die ich zweitens längst (und immernoch) weiß: „So waren die politischen Führungsfunktionen in der DDR fast ausschließlich von Männern besetzt. Der Frauenanteil im Zentralkomitee der SED lag unter 15 Prozent, im Politbüro waren so gut wie keine Frauen vertreten und im Ministerrat war es zuletzt nur Margot Honecker.“  Wer hätte das gedacht?

Jetzt aber wird es interessanter, weil es um gewisse Unterschiede zwischen Frauen in BRD und DDR geht (was im Beitrag, wie gesagt, mit keinem Wort vorkam): „Was sich unterschieden hat, war das vom Sozialismus propagierte Frauenbild von der in der Bundesrepublik vorherrschenden Rollenverteilung.“

Das lässt tief blicken. Es standen sich also gegenüber „Sozialismus“ und „Bundesrepublik“. Und „Propaganda“ machen natürlich immer die anderen – geschenkt. Aber inwieweit es neben der Propaganda in der DDR eine von jener in der BRD verschiedene und in mancher Hinsicht deutlich fortschrittlichere  Rollenverteilung gab (die Beispiele in den TV-Beiträgen waren ja gerade Schwangerschaftsabbruch oder Erwerbsbeteiligung) –  das gerät beim hier offenbar vorherrschenden „Framing“ (den impliziten Wahrnehmungs- und Interpretationsrahmen) gar nicht erst in den Blick, geschweige denn in den Diskurs. Man könnte sagen – sie wissen es nicht nur nicht, sie können anscheinend auch gar nicht ahnen, dass sie es nicht wissen.

Immerhin scheint man sich in der eigenen Filterblase nicht komplett abschotten zu wollen: „Gleichwohl gab es – und da haben Sie Recht- Unterschiede zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Im Rückblick betrachtet wäre es sicher wünschenswert gewesen, wir hätten diesen Aspekt im Beitrag über die drei Frauengenerationen unterbringen können. Wir halten aber dennoch den Gesamtblock zu „100 Jahre Frauenwahlrecht“ für journalistisch absolut vertretbar. Es ging, wie bereits gesagt, vor allem um die Frage der politischen Gleichberechtigung.“

Was für ein seltsam enges und selektives Verständnis des Politischen! Aber „absolut vertretbar“ – das bringt die relativ ausgeprägte Unfähigkeit zu Perspektiv-Wechsel und Selbstkritik fast schon „absolut“ auf den Punkt.

Was lässt sich daher von solchen leer wirkenden Floskeln halten? „Haben Sie vielen Dank für Ihre kritischen Anmerkungen. Grundsätzlich ist es richtig, dass wir uns bei der Planung und Gestaltung unserer Sendungen immer wieder vor Augen führen müssen, dass die Menschen in Deutschland mehr als vier Jahrzehnte in verschiedenen Ländern und Gesellschaften gelebt haben.“ Die Botschaft hör`ich wohl, allein mir fehlt der Glaube angesichts der Zeilen zuvor.

Aber trotz aller Ernüchterung über die anscheinend weiterhin stark ausgeprägte Kritik-Resistenz bei ARD-aktuell (zumindest bei Kritik von „links“) werde ich dem Publikumsservice natürlich gerne eine Bitte erfüllen: Als „kritischer Begleiter (ihrer) Nachrichtenangebote erhalten“ bleiben.