Versionen des Anschlages

1.) Angesichts von vielen extremen und extremistischen Äußerungen hierzulande möchte ich meinen Tweet wiederholen: Schuld an dem Anschlag in Berlin ist der/sind die Attentäter, jedenfalls nicht DIE Flüchtlinge.

In der Berichterstattung zum Anschlag in Berlin fiel mir auf, dass Äußerungen der Sicherheitsbehörden immer wieder ohne Quelle angegeben oder in der Wirklichkeitsform (Indikativ) wiedergegeben und damit in den Rang von Tatsachen erhoben wurden.

Siehe hier z.B. bei Spiegel Online

„Der Lkw-Fahrer ist nach der Tat offenbar zunächst geflüchtet. Kurz nach den Ereignissen konnte jedoch in der Nähe am Großen Stern, etwa zwei Kilometer vom Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz entfernt, ein Verdächtiger festgenommen werden, bei dem es sich um den Fahrer handeln soll.“ (Aufruf am 21.12.2016, 16.35 Uhr).

„Versionen als Versionen kennzeichnen“, sagte und sagt unter anderem Michael Haller – es scheint für Journalisten das Einfache, das schwer zu machen ist.

Insgesamt war an jenem Montagabend augenscheinlich, dass privat-rechtliche Sender schneller reagierten als öffentlich-rechtliche.

Hier eine Medienkritik vom „Spiegel“

Diskussionen gab es unter anderem darüber, inwiefern Opfer auf dem Weihnachtsmarkt erkennbar gezeigt wurden.

2.) Dass Angela Merkel hinsichtlich neuer Abkommen mit Niger und Mali von „Migrationspartnerschaft“ spricht wie jüngst auf dem EU-Gipfel in Brüssel, kann ich nachvollziehen. Das Wort klingt nach Augenhöhe und Fairness und daher sehr positiv, zumindest für das Wählerspektrum links von AfD und CSU. Aber warum etliche Journalisten das einfach wiederholen, ohne es als Zitat kenntlich zu machen?

Zum Beispiel hier bei der „Deutschen Welle“

Man könnte diese Vereinbarungen auch „Abschiebepakt“ nennen, das wäre ähnlich wertend, allerdings in negativer Richtung (wenn wir von AfD- und CSU-Kreisen absehen). Vielleicht ist „Rückführungsabkommen“ eine relativ neutrale Version der Termini, die in jenem Kontext möglich sind.

Postfaktisch war gestern

1.) Die Debatte um Information und Desinformation in den Medien nimmt merkwürdige Züge an: Volker Kauder, der Unionsfraktionschef, hatte bereits

Danke an Paul Schreyer und die „Nachdenkseiten“, Aufruf am 14.12.2016, 12.30 Uhr

am 20.11. in einem Gastbeitrag für „Die Welt“ gefordert:

Aufruf am 14.12.2016, 12.32 Uhr

„Wenn das Netz weiter lügt, ist mit Freiheit Schluss“. Man müsse diskutieren, ob die Betreiber von Plattformen wie Facebook nicht nur mehr tun müssten, um das Netz von rechtswidrigen Inhalten frei zu halten, sondern „von Lügen generell gerade in der politischen Debatte.“

Orwell lässt grüßen

In der Union mehren sich nun Forderungen, „Falschmeldungen“ unter Strafe zu stellen. Zuerst hatte der CSU-Politiker Stephan Mayer beklagt, dass es keine rechtliche Grundlage zur Strafverfolgung von Desinformationskampagnen gebe. „Damit müssen wir uns dringend auseinandersetzen und einen entsprechenden Straftatbestand schaffen“, sagte Mayer.

Siehe hier im Tagesspiegel, Aufruf am 14.12.2016, 13.33 Uhr

Ähnlich äußerten sich der Chef des Bundestagsinnenausschusses, Ansgar Heveling (CDU), und der CDU-Rechtspolitiker Patrick Sensburg. Der schlug zudem eine Art „Prüfstelle vor, die Propaganda-Seiten aufdeckt und kennzeichnet“.

Paul Schreyer meint dazu kritisch auf den „Nachdenkseiten“ (siehe oben), in dieser Hinsicht sei also klar, dass es einer zentralen Instanz bedürfe, „die in allen Fragen entscheidet, was „Wahrheit“ ist. Da wären wir dann direkt bei George Orwell und dem „Wahrheitsministerium“ aus seinem Roman „1984“.“

Strukturwandel der Öffentlichkeiten

Wenn wir das nicht wollen, bleiben uns meines Erachtens nur öffentliche und transparente Debatten darüber, was jeweils als „wahr“ (oder gut oder schön etc.) gelten soll. Spannend in diesem Zusammenhang sicher der erneute „Strukturwandel von Öffentlichkeit“, wie auch ein sozialwissenschaftlicher Klassiker von Jürgen Habermas aus dem Jahre 1962 heißt. Habermas, mittlerweile 87 Jahre alt, gilt als einer der wichtigsten Philosophen und Sozialwissenschaftler der Gegenwart. Er hat sich in einem Interview in der auch von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ nicht zuletzt über Fragen von Populismus, Politik und Medien geäußert.

Hier zu den „Blättern“, Aufruf 14.12.2016, 13.46 Uhr

Eine Gegenstrategie gegen Rechtspopulisten heiße „Dethematisierung“ der von jenen herbeigeredeten Scheinkonflikte. Diese Dethematisierung gelinge am besten durch Thematisierung des eigentlichen Problems – ich nenne es globalen Sozialabbau und globale Mitweltzerstörung. Habermas fragt ähnlich: „Wie erlangen wir gegenüber den zerstörerischen Kräften einer entfesselten kapitalistischen Globalisierung wieder die politische Handlungsmacht zurück?“

Demokratische Polarisierung

Zum Thema kann dieses Problem laut Habermas am ehesten durch scharfen und transparenten politischen Streit werden, also in „demokratischer Polarisierung“. Es geht darum, in mittlerweile mindestens gestaffelten Öffentlichkeiten zu debattieren, worin die Krise liegt, statt die Definition der Lage jenen Extremisten (aus) der nationalistisch-wirtschaftsliberalen Mitte wie Trump oder Gauland zu überlassen. Öffentlichkeiten als wettstreitende sind dafür wichtig, weil auch laut Habermas eine „gewisse Anpassungsbereitschaft“ vieler journalistischer Medien dazu führte und führt, dass sich „der Schaumteppich der Merkelschen Politik der Einschläferung“ ausbreitete und ausbreitet. Und er hat sicher nicht unrecht damit, dass Fixierungen auf die AfD zu noch weitergehenden Einebnungen der Vielfalt und damit der Wahlmöglichkeiten zwischen den etablierten Parteien sowie – leider oft im Gleichklang damit – zwischen den etablierten Medien führen dürften.

Zeit für Spekulatius

2.) Zum sprachkritischen Kaleidoskop etwas Passendes: US-Radiokorrespondent Martin Ganslmeier, 2012 vom NDR für den ARD-Hörfunk nach Washington entsandt, sagte in seinem Bericht im RBB-Inforadio am 13.12.2016 um 19.12 Uhr: „Wenn sich Wladimir Putin einen US-Außenminister wünschen könnte, würde er sich Rex Tillerson wünschen.“ Das ist bemerkenswert – postfaktisch war anscheinend gestern, heute gilt präfaktisch: Ich wüsste nicht, dass Putin Entsprechendes geäußert hätte. Dennoch wird genau das in diesem informationsbetont sein sollenden Beitrag als Faktum behauptet – natürlich im Konjunktiv II. Aber der rettet hier auch nichts, denn es hätte (sic!) zumindest ein Wort der Distanzierung wie „wahrscheinlich“ oder „vermutlich“ oder „sicherlich“ oder „bestimmt“ oder was auch immer dieser Art in den zweiten Teilsatz hinein gemusst. Und selbst dann handelte es sich noch immer um eine ziemlich meinungsbetonte Äußerung. Es sei denn, „präfaktisch“ (hier vor allem: spekulativ) wäre das neue „sachlich“.

Mord und Medien

Die ARD-Chefetage hat Vorwürfe zurückgewiesen, eine Berichterstattung über Vergewaltigungs- und Mordvorwürfe gegen einen 17 Jahre alten Flüchtling aus Afghanistan in Freiburg zu unterdrücken (vgl. u.a. http://de.reuters.com/article/deutschland-fl-chtlinge-ard-idDEKBN13U243, Aufruf am 7.12.2016, 9.20 Uhr). Zwar sei der Tod der 19 Jahre alten Studentin im Oktober fürchterlich gewesen, aber der Fall der Festnahme des Verdächtigen Anfang Dezember habe nicht die Tragweite für einen Tagesschau-Bericht, hatte ARD-Aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke via Facebook geschrieben: Es sei so, „dass es sich um einen Einzelfall, einen Kriminalfall gehandelt hat, der aus unserer Sicht eben nicht diese gesellschaftliche, diese nationale oder internationale Relevanz hat.“ Mit seiner Stellungnahme reagierte Gniffke nach eigenen Angaben auf viele Anfragen, in denen Zuschauer wissen wollten, warum die Tagesschau im Unterschied zum ZDF nicht über die neuen Entwicklungen in diesem Fall berichtet habe.
Der Verdächtige war nach Polizeiangaben 2015 unbegleitet aus Afghanistan eingereist und bei einer Familie in Freiburg untergebracht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Vergewaltigung und Mord der 19-jährigen Studentin vor.

Petry beschwert sich

AfD-Chefin Frauke Petry wiederum warf der Tagesschau vor zu behaupten, „es handelt sich um ein regionales Ereignis“. Mit Blick auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sprach sie vom „Verschweigen wichtiger Geschehnisse“ und „Kleinreden“ und nannte neben dem Freiburger Fall die Silvesternacht von Köln, als eine große Zahl von Männern mit Migrationshintergrund Frauen sexuell genötigt haben soll. „Das lässt mich doch alles daran zweifeln – und das sind nur sehr wenige von sehr vielen Beispielen – dass wir tatsächlich eine Informationsfreiheit und eine breitere Berichterstattung erleben“, erklärte Petry.
Gniffke erklärte, die Tagesschau hätte auch nicht berichtet, wenn ein Deutscher ein Flüchtlingsmädchen getötet hätte. Über Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte werde aber informiert, weil sich dahinter ein offenbar breiteres gesellschaftliches Phänomen verberge, nämlich Fremdenfeindlichkeit. Die ARD-Tagesthemen berichteten dann am Montagabend erstmals über den Freiburger Fall (siehe https://www.youtube.com/watch?v=iRdCyx4XlQs; Aufruf am 7.12.2016, 9.45 Uhr). Grund sei aber kein Sinneswandel gewesen, äußerte Gniffke, sondern das breite Echo, das der Fall und seine mediale Behandlung gefunden hätten.

Mediale Wirklichkeiten

Das ist interessant – es geht nicht nur um den Kriminalfall (in Deutschland hat es 2015 offiziell 296 Morde geben, also durchschnittlich etwa fast jeden Tag einen, Tendenz seit dem Jahr 2000 mit damals knapp 500 fallend, vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2229/umfrage/mordopfer-in-deutschland-entwicklung-seit-1987/; Aufruf am 7.12.2016, 9.30 Uhr), sondern beim Umschwenken von ARD-Aktuell um vor allem mediale Reaktionen darauf, die nun laut Moderator Ingo Zamperoni eine „politische Dimension“ des Falles bis hin zur Äußerung der Kanzlerin bedeuten. Auch wenn Nachrichten und Nachrichtenmagazine traditionell nicht gerade als medienkritische Formate bekannt sind, werden also Unterscheidungen von medialer und außermedialer Realität anscheinend schwieriger. Nachrichtenfaktoren wie Negativismus, Frequenz, Schwellenwert, Eliteperson und Personalisierung sind auch daher nicht naiv zu fassen als Wirklichkeitsmerkmale, sondern wesentlich als Beitragsmerkmale. Kai Gniffke meint, „Relevanz“ als hier kaum erfüllter Nachrichtenfaktor habe zunächst über dem „Gesprächswert“ gestanden und damit das Schweigen von ARD-Aktuell bis Montag begründet.

Einer für alle?

„Relevant“ meint hier offenbar „öffentlich-relevant“, im Sinne von Problemen aus Politik, Wirtschaft, Grundrechtsfragen etc., die uns einerseits tendenziell alle und nachhaltig betreffen, die wir andererseits in unserer demokratisch verfassten Gesellschaft aber auch selbst zumindest mit-bestimmen können (sollten). „Gesprächswert“ hieße dann privat-relevant, also alles, worüber sich auch „normale“ Menschen (keine Medienprofis) unterhalten, weil es irgendwie interessant scheint, zum Beispiel Sport, Promi-News oder Wetter. Gniffke wurde von einem Nutzer entgegengehalten, dass es doch fast jeder mittlere Waldbrand in den USA bis in die „Tagesschau“ schaffe, obwohl die Relevanz solcher Ereignisse oder eben Beiträge für die Nutzer jener Sendung gegen Null gehen dürfte.
Aber womöglich war die lange funktionierende Unterscheidung wichtiger „hard news“ von interessanten „soft news“ schon immer eine exklusive, weil (unbewusst und unbefohlen) elitäre Angelegenheit? Das selbstkrisch zu reflektieren heißt nicht, sich von rechtspopulistischen Extremisten (aus) der Mitte wie Trump, Gauland oder Hofer treiben zu lassen. Wir Journalisten und unser Journalismus, vielleicht sogar die Journalismen sollten heterogener werden, um die Gesellschaft und ihre Widersprüche, ja Spaltungen (zumindest besser) „repräsentieren“ zu können.

Fragwürdige Praktiken

Zwei Beispiele dazu aus diesem Anlass: a) Arno Frank schrieb auf Spiegel Online (http://www.spiegel.de/kultur/tv/getoetete-studentin-maria-l-in-freiburg-warum-die-ard-nun-doch-ueber-den-mord-berichtet-a-1124574.html; Aufruf am 7.12.2016, 9.36 Uhr): „Darüber berichteten alle, von „Focus“ bis zum ZDF-„heute-journal““, was natürlich Quatsch ist, selbst wenn, wie er selber einräumt, nur die „Tagesschau“ noch nicht darüber berichtet hätte. Solche sinnlosen All-Aussagen als Über-Vereinfachungen sind Teil der Probleme, die (viele Menschen mit den) Medien haben.
b) Alle drei Umfrage-O-Ton-Geber im Tagesthemen-Beitrag von Daniel Hechler sind offenbar linksliberale Bürger der Stadt. Das kann repräsentativ sein, muss es aber nicht. Sollte man jedenfalls selbstkritisch recherchiert und als Rohmaterial produziert/gesichtet/ausgewählt haben.

Verweihnachtung in der Sprache

2.) Einfach heute hingegen mein sprachkritisches Kaleidoskop: Die PR-Profis vom Berliner Studentenwerk texteten dieser Tage: „Wegen der Durchführung einer innerbetrieblichen Veranstaltung bleiben unsere Mensen ….“ Das liest sich elegant, ja fast schon literarisch und ist jedenfalls so viel ansprechender als „wegen unserer Weihnachtsfeier“ (was ja außerdem auch viel zu kurz gewesen wäre). Eine schöne Absolvierung der Realisierung des dritten Adventes wünsche ich!