1.) Thilo Sarrazin und seine umstrittenen migrationspolitischen Äußerungen sind ein wichtiges Medien-Thema dieser Wochen. Bei der Buchvorstellung am Montag, 30.8., vor Riesenandrang in der Bundespressekonferenz sagte der Bundesbankvorstand ganz zu Beginn: „Meine Damen und Herren, wir stehen an einer Zeitenwende, dessen Ausmaß die meisten von uns sich noch gar nicht vorstellen können.“ Ein Fall für unser sprachkritisches Seminar-Kaleidoskop – kann der stolze Deutsche Sarrazin einen relativ einfachen Satz in deutscher Sprache geradeaus sprechen? Nun, diesen zumindest nicht – finden Sie bitte den (vielleicht genetisch?) eingebauten Grammatik-Fehler! Im Satz darauf wurde es dann inhaltlich interessanter: Der Geburtenrückgang bei deutschen Frauen sei derzeit dramatischer als während all der Kriege, die Deutschland während der letzten 200 Jahre – na, was wohl? „angefangen“, „ausgelöst“, „geführt“ hat? Nein, Thilo Sarrazin bringt es auch hier auf den Punkt: – jener Kriege also, die Deutschland „heimgesucht haben“. Auch das eine sicherlich bittere Wahrheit, die nun endlich mal jemand Prominentes ausgesprochen hat.
2.) Friedrich Küppersbuch, ein lebender Beweis dafür, dass Fernsehen nicht schon genetisch dumm macht und Fernsehleute nicht per se einfältig sein müssen, Küppersbuschhh also schrieb in der TAZ vom selben Tag: „ „Sarazenen“ ist ein Schmähwort, eine angstgeprägte Sammelbezeichnung für muslimische Völker, die ab ca. 700 n. Chr. in und über das Mittelmeer vordrangen. Sagt das etymologische Lexikon. Nun zu unserer Publikumsfrage: In welcher Sprache heißt „Thilo“ „paranoides Arschloch“?“ Also „paranoid“ würde ich natürlich nie sagen! Bis hierhin vielen Dank! (Quelle: „http://www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/wie-geht-es-uns-herr-kueppersbusch-eaf2546f“ vom 30.8.2010)
And now for something completely different, wie es schon bei Monty Python heißt: Margreth Lünenborg ist Journalistik-Professorin an der FU Berlin und plädiert seit Jahren für eine kulturorientierte Journalismusforschung, im weiten Sinne von Kultur u.a. der Cultural Studies. Derzeit sieht sie – sehr erklärungskräftig, wie ich finde – im Journalismus und in anderen medialen Kommunikationsgattungen Tendenzen weiterer Ausdifferenzierung und zugleich Entdifferenzierung. Lünenborg nennt das „Hybridisierung“ mit Akzent auf den Übergängen von (bisher oder sonst) eher Getrenntem (Quelle: JournalistikJournal, Heft 1/2010, Dortmund, S.10f.). Vor allem kulturell-technisch sind weitere Teilungen und Neu-Schaffungen möglich und auch schon wirklich: Sparten-Medien mit immer genaueren Publikumsansprachen, Teil- und Mikroöffentlichkeiten, neue Formate und (Sub-)Genres, neue Rollen journalistischen Arbeitens (Blogs, Nutzung sozialer Netzwerke, so verschiedene Internet-Plattformen wie YouTube oder Wikileaks etc.), Aktivierung durch Interaktivität. Zugleich lassen sich Prozesse der Entdifferenzierung beobachten, oft ökonomisch oder machtpolitisch induziert, wie die Beispiele des gegenseitigen Austauschens hoher oder sogar höchster Vertreter von Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit (Ulrich Wilhelm, Steffen Seibert u.a.) oder auch jene der Zusammenlegung von Ressorts, ja von ganzen Medien zeigen. Solche Wandlungen sind auch Lünenborg zufolge gesellschaftlich-kulturell zu verorten: „Mithin sind sie nicht als subjektgebundene Handlungsmuster angemessen zu erfassen.“ Eine im weiten Sinne kulturorientierte Journalistik nimmt als integrative also „Produktionsbedingungen von Journalismus ebenso in den Blick“ wie sprachliche, visuelle und oder auch narrative Vermittlungsweisen. Lünenborg weist darauf hin, dass es für die Journalistik nicht um die Dichotomie in den Ansätzen zwischen sozialwissenschaftlich (meist quantitativ, also empirisch-messend zur Wirklichkeitsbeschreibung) versus kulturwissenschaftlich (oft qualitativ, mithin deutend-interpretativ zum Wirklichkeitsverstehen) gehe, was in der deutschen Wissenschaftslandschaft oft die (sozialwissenschaftliche) Kommunikationswissenschaft der (kulturwissenschaftlichen) Medienwissenschaft gegenüberstellte. Das heißt auch: Kultur als allgemeinste menschliche Verkehrsform, Kommunikation und Medien sind auf Makro- (Gesellschafts-), Meso-(Institutionen), Mikro-(Individuen) und sogar Nano-Ebene (innerhalb der einzelnen Menschen) aufeinander bezogen. Wir sollten auch Journalismus integrativ und prozessual verstehen, wegkommen von der tradierten Kommunikator-Zentrierung (was ja auch ganz praktisch im Journalismus geschieht). In den Mittelpunkt rücken dann die Medienproduktion, die jeweiligen Texte und Kontexte, aber nicht zuletzt auch die Rezeption und Aneignung in „alltagsgebundenen Kontexten.“ Bleiben wir dran!