Blog vom 18.1.2012: Gibt es ein Leben nach dem Vorleben?
1.) Man muss, wie gesagt, Christian Wulff und seine Affären nicht verteidigen, um Kai Diekmann und das Haus Springer weiterhin kritisch zu fragen, warum dort der umstrittene Anruf des Bundespräsidenten vom 12.12. nicht „zeitnah“ veröffentlicht wurde. Und inwiefern sich der Verlag insgesamt nun zu Recht als Hüter von Pressefreiheit und Aufklärung feiern lässt. Die Tageszeitung „taz“‘ hakte bei Diekmann nach (http://www.taz.de/Diekmann-an-taz/!85638/, Aufruf vom 17.1.2012, 18.10 Uhr), es gab einige neckische Scheingefechte zwischen beiden Seiten, aber der spannenden Frage nach dem Zustand der „inneren Pressefreiheit“, also der Autonomie der Redakteure und der Redaktion im jeweiligen Hause, kam man kaum näher auf die Spur.
Namhafte Journalisten wie Hans-Ulrich Jörges vom „Stern“ oder Steffen Klusmann von der „FTD“ kritisieren mittlerweile vor allem die mediale Kritik an Wulff. Wenn allerdings Jörges auf dem Deutschen Medienkongress in Frankfurt am Main tatsächlich gesagt hat (laut epd und z.B. BLZ vom 18.1.2012, S.30): „Die Gerüchte über ein angebliches Vorleben von Bettina Wulff sind in den Medien auf eine rufmörderische Art und Weise thematisiert worden“, dann sollten wir in aller Ruhe festhalten, dass Bettina Wulff ganz sicher ein „Vorleben“ vor dem jetzigen an der Seite von Christian Wulff hatte. Die Frage bleibt, ob das schlicht beider Privatsache ist (was ja als die faire und journalistisch-professionelle Sichtweise erscheint), oder ob dieser Aspekt nicht doch auch öffentlich-relevante Facetten aufweisen könnte, Stichwort Unabhängigkeit oder eben etwaige Erpressbarkeit. Da sollten nicht nur Bild und taz im Interesse selbstkritischer gesellschaftlicher Kommunikation dranbleiben und nicht dem nächsten Schiff, das durchs Dorf gekentert wird, fast alle Ressourcen hinterherwerfen.
2.) Es tut sich was im deutschen Fernsehen, aber eher hinter den Kulissen. ARD und ZDF kämpfen sichtlich um jüngere Nutzer (also jünger als ca. 60 Jahre, wie wir neulich bei einer Exkursion zum ZDF in Berlin auch aus erster Hand bestätigt bekamen). Sie versuchen vor allem über ihre digitalen Ableger wie EinsFestival und ZDFneo, sogar noch jüngere Leute als 59-Jährige zu erreichen. Denn die Hauptprogramme bleiben traditionsbewusst – aus Furcht, anderenfalls Stammseher zu vergraulen. Und nun fällt ihnen ein anderes Urgestein anscheinend in den Rücken – Kurt Beck, seit Ewigkeiten Landesvater in Mainz und ca. ebenso lange schon Chef der Rundfunkkommission der Länder, hat im Fachmedium „Promedia“ erklärt, dass die öffentlich-Rechtlichen gerade solche neuen Programme doch aus Kostengründen streichen könnten (http://www.goldmedia.com/blog/2011/12/beck-schlagt-einstellung-von-vier-der-sechs-digitalkanale-von-ard-und-zdf-vor-ministerprasident-kurt-beck-im-gesprach-mit-der-promedia/#more-4508, Aufruf am 18.1.2012, 14.08 Uhr, vgl. BLZ vom 17.1.2012, S.26). Dabei liegt im Abschalten des analogen Satellitensignals in Deutschland ab April eine Chance gerade für die neueren Digitalkanäle, Reichweite und vielleicht auch Marktanteile auszubauen, also „Quote“ zu machen (was ja für die öffentlich-Rechtlichen anscheinend immer wichtiger wird). Klar, dass gerade RTL und ProSieben gegen solche Experimente von ARD und ZDF sind. Denn deren bisherige Alterspyramide ist ja für diese privat-Rechtlichen geradezu der Goldesel oder eben die Goldelse. Dass diese Versuchsballons der Verjüngung zwischen „Festival“ und „Neo“ nicht in den Himmel fliegen, dürfte auch daher klar sein – nicht zuletzt, weil die Rundfunkgebühren bis 2016 laut der zuständigen Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der (öffentlich-rechtlichen) Rundfunkanstalten nicht steigen, sondern maximal bei den bisherigen 17,98 Euro für Radio und TV bleiben sollen (vgl. .http://wissen.dradio.de/nachrichten.59.de.html?drn:news_id=62315, Aufruf 18.1.2012, 15.53 Uhr) Allerdings, soviel „neo“ bleibt uns auf alle Fälle erhalten, nicht mehr als gerätebezogene Gebühr, sondern neuerdings als Haushaltsabgabe.
3.) In den Zeilen zuvor taucht relativ häufig das Wort „anscheinend“ auf – und das ist nur scheinbar ein Zufall. Sondern ein Fall für unser sprachkritisches Kaleidoskop – ein Evergreen gerade in TV und Radio: Im ZDF-heute-journal hieß es zum tödlichen Waffengebrauch in einem Gericht in Bayern am 11.1.: „Wie kann es sein, dass der Angeklagte scheinbar ohne Kontrolle eine Waffen mit in das Gericht nehmen konnte?“ Scheinbar besteht also kein Unterschied zwischen „scheinbar“ und „anscheinend“. Aber eben nur scheinbar.