Die Verhältnisse von Dokumentarischem und Inszeniertem bewegen

Rezension zu Michael Schomers: Der kurze TV-Beitrag. Reihe Praktischer Journalismus, Band 87. UVK Verlagsgesellschaft Konstanz 2012. ISBN 978-3-86764-235-4

Für die wissenschftliche Rezensionsplattform „r.k:m.“ der TU Dortmund (Link: http://www.rkm-journal.de/)

Von Sebastian Köhler

Michael Schomers dürfte in mehrerer Hinsicht wissen, worüber er schreibt: Der 1949 Geborene arbeitet nach eigenen Angaben einerseits praktisch als freier Fernsehjournalist, Autor, Regisseur, sowie TV-Produzent und andererseits reflexiv als Dozent in der journalistischen Aus- und Weiterbildung. Originell erscheinen mir seine Versuche, Theorien und Umsetzungen zum kurzen TV-Beitrag im Rahmen des „dokumentarischen Fernsehens“ (128) in Deutschland zu diskutieren. Der Autor erklärt, sein Buch sei „keine theoretische und abstrakte Abhandlung über das Thema, sondern eine möglichst anschauliche Beschreibung ganz konkreter Produktionen mit vielen Beispielen aus der Praxis“ (9). Diese Einschätzung kommt meiner recht nahe – dennoch hätte dem Buch insgesamt noch mehr Reflexivität sicher nicht schlecht getan – zum Beispiel im Sinne des Diskutierens praktischer oder eben auch theoretischer (aus der Literatur bekannter) jeweiliger Alternativen.
Schomers, der beide Seiten der dualen deutschen Fernsehlandschaft kennt, sieht „die Grundfrage“ (246) darin, wieso gebührenfinanziertes Fernsehen überhaupt so stark auf „die Quote“ (Reichweite und Marktanteil also) schaue und dabei oft den Sendeauftrag „sehr vernachlässigt“. Vor diesem Hintergrund verflache, ja verkomme der Journalismus immer mehr einerseits zur oberflächlichen hyper-aktuellen Berichterstattung, andererseits zur relativ reinen und zudem seichten Unterhaltung (239f.).
Schomers sozial aufgeschlossene professionelle Grundhaltung als Journalist und Journalistik-Dozent kennzeichnet sein gesamtes Buch, er macht sie gegen Ende explizit: „Eine der wichtigsten Aufgaben für uns Journalisten ist es, hinter die Kulissen zu schauen, die Mächtigen in unserem Land zu kontrollieren und die oft zitierte Rolle als „vierte Gewalt“ wirklich auszufüllen. Eine Rolle, die leider heutzutage im Fernsehen, bis auf wenige Ausnahmen, nicht mehr gefragt ist und daher immer weiter verschwindet“ (235). Für Schomers heißt das medienpraktisch, „Anwalt sein zu können für Menschen, die keine Lobby haben“ (ebd.).
Besonders originell, weil theoretisch und praktisch sowohl kritisch als auch konstruktiv, erscheint Schomers‘ Auseinandersetzung mit den Schriften und dem redaktionellen Wirken des deutschen TV-Trainers Gregor Alexander Heussen (119ff.). Schomers versucht hiermit, auch bei Heussens Ansatz vom „Erzählsatz“ (in meinen Worten: Man kann und soll auch im aktuellen TV-journalistischen Bereich des Fernsehens möglichst Vieles als Geschichte vermitteln mit Erzählsatz in der Gegenüberstellung von Hauptfigur und Herausforderung sowie im Abarbeiten eines entsprechenden Roten Fadens aus der insbesondere verbalsprachlichen Perspektive einer bestimmten Textperson) Chancen und Risiken in den Blick zu bekommen. Schomers konzentriert sich allerdings (für mich nachvollziehbar) auf die Gefahren, die (nicht nur) er in einer tendenziellen Verabsolutierung der Vorschläge Heussens sieht: Der Autor argumentiert, dass viele Zuschauer kaum „auf diese ermüdend eintönige Weise unterhalten werden“ (121) wollten (leider schreibt er im selben Satz zweimal „gar nicht“ – das müsste gar nicht sein!). Schomers sieht bei Heussen sogar „Jünger“ (ebd.) am Werk, denen er Nutzer gegenüberstellt, „die an Sachinformation interessiert sind und nicht an einer emotional aufgepeppten Geschichte oder einer irgendwie konstruierten Herausforderung“ (ebd.). Da die filmischen Beiträge nicht zuletzt durch die Nutzer entstehen (leider schreibt Schomers hier etwas holzschnittartig: „im Kopf des Zuschauers“ (ebd., 124)), könne es keine allgemeingültige dramaturgische Regel geben, die „egal welchem Thema“ (sic!) übergestülpt werde (121). Im Sinne einer – normativ auch hier zugrundeliegenden, aber kaum einmal explizit gemachten – journalistischen, also thematischen und darstellerischen Vielfalt bleibt zu kritisieren, dass durch gewissen Totalisierungen von Heussens Erzählsatz leider „viele Möglichkeiten weg(fallen), die zu anderen dramaturgischen Lösungen führen könnten.“ (ebd.). Schomers beklagt, dass TV-journalistische Beiträge so „insgesamt wohl erheblich gleichförmiger“ (123) würden. Systematisch und pragmatisch-konstruktiv habe auch ich mich mit eben jener Problematik auseinanderzusetzen bemüht, um womöglich pathologischen Einengungen bei Themenwahl und Umsetzungen in der aktuellen TV-Berichterstattung entgegenwirken zu können (vgl. KÖHLER 2009-174ff.): Journalistische Vielfalt als wichtiges Qualitätskriterium bedeutete daher – vor dem Hintergrund der Wirksamkeit der narrativen Darstellungsart – zumindest zweierlei: Erstens als „externe Vielfalt“, angesichts von Ereignissen mit Storypotential anderes, relevantes Geschehen auch und angemessen zu vermitteln – die Welt bleibt ja nicht stehen, nur weil z.B. die Geburt eines royalen Babys ansteht. Und dies bedeutete zweitens als „interne Vielfalt“, das geschichtsträchtige Geschehen – sofern gesellschaftlich relevant – selbst vielseitig und hintergründig zu vermitteln. Also – was die „interne Vielfalt“ auf der Ebene der Sendung und Sendungen angeht – nicht nur in einer Darstellungsart und Darstellungsform, nicht nur in einer Perspektive und Position, nicht nur mit einer Hauptperson sowie der auf sie bezogenen Herausforderung samt deren Auflösung und daher verbunden nicht nur mit tendenziell einseitigen Gefühlen und Informationen. Und was die „interne Vielfalt“ bezogen auf den einzelnen narrativen
Beitrag angeht, durch objektivierende journalistische Ansätze wie Aus-Balancierung (zu) einseitig-suggestiver Bilder durch die Textperson/den Sprechertext, durch parallele Handlungsstränge (nicht nur in der Gesamtsendung, sondern, wo möglich, auch im einzelnen Beitrag) oder durch den Einbezug von pluralisierenden, einordnenden Nebenfiguren bzw. anderen alternativen Quellen in Bild und Originalton. Auch Schomers plädiert in diesem Sinne sicher für solides Handwerk, aber insbesondere für Individualität und das Ausprobieren neuer, kreativer Lösungen (125). Überzeugend finde ich daher auch Schomers‘ Einordnen der normierten Erzählsätze in vielen Bereichen des gegenwärtigen TV-Journalismus in die übergreifenden Probleme der “Skripted Reality” und die von dort ausgehenden Gefahren für das Dokumentarische im TV überhaupt (126ff.). Schomers (er und ihn) bewegt die Frage der Verhältnisse von Dokumentarischem und Inszeniertem: “Wir gestalten unseren Film, was in gewisser Weise auch bedeutet, dass wir die Wirklichkeit gestalten” (133), und zwar, so wäre zu ergänzen, sowohl die mediale Wirklichkeit als auch die außer-mediale Wirklichkeit.
Zur Frage veränderter Sehgewohnheiten als Folge der “Clip-Ästhetik” und im Angesicht oftmals paralleler Medien- oder Kanalnutzungen gerade Jüngerer (134f.) warnt Schomers, wiederum praktisch und theoretisch nachvollziehbar, auch hier vor einer neuen Verabsolutierung. Er plädiert erneut für Vielfalt statt Einfalt, für das Offenhalten und Ausprobieren auch “anderer ästhetischer Formen”.
Schomers arbeitet seit rund 30 Jahren offenbar überwiegend selbständig, und dafür beschreibt er treffend einige Ambivalenzen dieser ja oftmals nur scheinbar “freien” Tätigkeiten zwischen erheblicher Selbstausbeutung und relativ un-entfremdeter Arbeit (56ff.). Die Problemzonen zwischen schrumpfender Kernbelegschaft und ebenfalls schrumpfenden “Kuchen” (als zu verteilenden Aufträgen) für eine wachsende Randbelegschaft (Pauschalisten, Freie, Praktikanten etc.) bestimmt der Autor als “Riss”, der durch die Fernsehlandschaft gehe (vgl. 214 mit Blick auf besondere “Frechheit” seitens festangestellter Redakteure).
Wenn Journalismus im Kern das Veröffentlichen von aktuellen, authentischen und autonomen Beiträgen bedeutet, die ohne das jeweilige journalistische Wirken gar nicht öffentlich werden könnten (so ja unter anderem Karl-Nikolaus Renner oder auch Michael Haller), ist klar, dass Recherche, also die rezeptive Seite des Journalismus, mindestens ebenso wichtig ist wie die produktive. Schomers problematisiert daher sehr zu Recht, dass gerade im TV-Journalismus Recherche in der Regel nicht bezahlt wird (72), was bedeutet, dass die Erwerbstätigkeit umso lukrativer ist, je weniger recherchiert wird – zweifellos eines der größten strukturellen Probleme der Fernsehpublizistik. Ein anderes bleibt – auf neuem Niveau – das Angewiesensein auf möglichst exklusive Bewegtbilder, was durch die privat-rechtlichen Sender (Schomers sagt ganz bewusst: “kommerzielle Sender” -181-, was ja aber leider die öffentlich-rechtlichen in mancher Hinsicht mittlerweile auch sind, wie der Autor immer wieder und nachvollziehbar moniert) zu immer mehr “Scheckbuchjournalismus” führe – wer das meiste Geld habe oder biete, bekomme den Zuschlag. Relevant und klar ist Schomers Blick auf die ökonomische Macht der Sender (und der Werbetreibenden bzw. sonstigen Interessengruppen, 88f.): Sie sitzen strukturell und tendenziell am längeren Hebel und dürfen daher mit (und in) den Filmen in der Regel machen, was sie wollen (218).
Besonderen praktischen Nutzwert versprechen die Passagen über selbst erlebte komplexe Dreh-Arbeiten (14, 52, 84 u.v.a.), zur Systematik im Umgang mit dem eigenen Material (150 – auch wenn die Speichermedien weiter aktualisiert sind), zum Laufenlassen der Kamera (173), zum Sichten und dem Einbezug von Praktikanten (191) und last but not least zum Umgang mit der versteckten Kamera (231f. – mit einer treffenden Kritik an einem MDR-Format, in dem arme Menschen auf diese Weise vorgeführt werden. Dieses Motiv taucht bei Schomers auch im Aufgreifen von Bernhard Pörksens Kritik am “Sozial-Porno” der Casting-Industrie mehrfach auf und hätte noch vertieft werden können -127, vgl. PÖRKSEN 2010).
Das Buch von Michael Schomers bieten daher insgesamt inhaltlich-praktisch einen sehr guten Überblick zum Thema, warum und wie kurze TV-Beiträge produziert werden (sollten).
Neben meiner Kritik am insgesamt doch leider etwas zu geringen theoretischen Spielraum, den der Autor nutzt und eröffnet, gesellt sich die Frage, ob das Buch tatsächlich, wie im Einband verkündet, ein Korrektorat erfahren hat. Zugute halte ich dem Autor eine oft angenehm umgangssprachliche Art, welche die Zielgruppe sicher anspricht. Aber Schomers ist ja offenbar keiner von den Fernseh-Überfliegern, die meinen, Schriftsprachliches versende sich so oder so. Vielmehr scheint er selber Anhänger eines vielfältigen und zugleich möglichst angemessenen und richtigen Sprachgebrauches. Auch deshalb ärgern die zahlreichen rechtschreiblichen, grammatikalischen und auch ausdrucksbezogenen Fehler im Buch umso mehr.

Literaturverzeichnis: ,
KÖHLER 2009 – Köhler, Sebastian: Die Nachrichtenerzähler. Zu Theorie und Praxis nachhaltiger Narrativität im TV-Journalismus. Reihe Angewandte Medienforschung, Band 45. Nomos-Verlag Baden 2009.
PÖRKSEN 2010 – Pörksen, Bernhard: Die Casting-Gesellschaft: Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien. Halem-Verlag Köln 2010.