Fake oder Fakt?

1.) „Alternative Fakten“ ist in Deutschland zum „Unwort“ des Jahres 2017 bestimmt worden (http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-01/alternative-fakten-unwort-des-jahres-2017-sprache, Aufruf 16.1.2018, 19.20 Uhr).
Der Ausdruck geht auf Äußerungen von Kellyanne Conway zurück. Damit hatte die Beraterin von Donald Trump die ersichtlich falsche Tatsachenbehauptung bezeichnet, zur Amtseinführung des US-Präsidenten Anfang 2017 seien so viele Feiernde vor Ort in Washington auf der Straße gewesen wie nie zuvor bei entsprechender Gelegenheit. Laut Jury steht der Ausdruck „für die sich ausbreitende Praxis, den Austausch von Argumenten auf Faktenbasis durch nicht belegbare Behauptungen zu ersetzen“. Also für einen, das Paradoxon sei gestattet, „absoluten Relatvismus“, dem scheinbar alles irgendwie gleichermaßen gültig ist. Aber natürlich und naheliegender Weise vor allem das, was in der eigenen „Blase“ ventiliert wird. Was das eigene Weltbild bestätigt und verstärkt.

Wem nutzen Kampagnen gegen „Fake News“?

Aber man sollte bei aller berechtigten Kritik an „Fake News“ und „Alternative Facts“ nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Michael Meyen weist zu Recht darauf hin (Michael Meyen: Fake Debate: Wem „Fake News“ wirklich helfen. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2018. https://medienblog.hypotheses.org/1009, Aufruf 16.1.2018, 19.20 Uhr), dass die Kampagnen gegen „Fake News“ (ähnlich wie das Schlagwort „asoziale Medien“) vor allem denen helfen, die (so oder so, ob nun das Trump-Lager oder die Clinton-Tendenz) an der Macht sind, und ihren „traditionellen Sprachrohren“, heißen sie nun Fox News oder aber New York Times. Das stimmt laut Meyen auch deshalb, weil diese Debatten ablenken von Problemen, über die wir sprechen sollten im Sinne sozialer und ökologischer Demokratisierung. Über die Qualität des Journalismus zum Beispiel, über seine Finanzierung via Werbung und Verkauf, die vieles von dem zumindest nicht erleichtert, was wir von ihm erwarten dürfen (Öffentlichkeit herstellen, die Mächtigen kritisieren und kontrollieren), und nicht zuletzt über die Besitzverhältnisse. Ich halte in dieser Hinsicht für wichtig: Einerseits lassen sich längst auch in den Metropolen des Turbokapitalismus wachsende soziale Spaltungen beobachten. Andererseits (und das mag damit zusammenhängen) kann man den medialen „Mainstream“ als sogar noch homogener beschreiben denn bisher. Aus diesen sich verstärkenden Spannungen scheinen sowohl „von oben“ als auch „von unten“ (leider) eher destruktive Tendenzen zu erwachsen, im Sinne von Autoritarismus und Exklusion. Und dann haben es „Fake News“ oder „Alternative Fakten“ relativ leicht, zumindest große Reichweiten zu erzielen.

Fake News als bewährte Profit-Strategie

Christian Fuchs (Westminster University London) erklärt, inwiefern Fake News als Gefahr für Demokratisierung gesehen werden können (https://camri.ac.uk/blog/Articles/fake-news-not-just-word-year-danger-democracy-can-overcome-adequate-legal-media-reforms/, Aufruf 17.1.2018, 15.18 Uhr). Sie sind zunächst nichts Neues, wie die Serie der Boulevardzeitung „New York Sun“ aus dem Jahre 1835 zeigt, in der sehr massenwirksam von einer vermeintlichen Entdeckung menschlichen und tierischen Lebens auf dem Mond geschrieben wird („The Great Moon Hoax“). „Fakes News“ waren und sind Fuchs zufolge vor allem eine spezielle Profit-Strategie. Relativ neu aber seien nun die Herstellungs- und Verteilungswege: Weniger in und aus tradierten Medien, zunehmend in und aus und für Netzumgebungen, vor allem im Kontext bestimmter Plattformen („Social Media“). Dort ist vieles möglich:
Fuchs verweist auf das Online-Software-Werkzeug „Twitter Audit“, demzufolge von den rund 43 Millionen Followern Donald Trumps auf Twitter rund 45 Prozent „fake accounts“ seien.

Alternativen zur Fake-News-Kultur

Sich mit diesen gewiss nicht neuen, aber neuerdings aus dem Netz heraus ziemlich reichweitenstarken Phänomenen auseinanderzusetzen, das sollte allerdings weder alleinige Aufgabe von Staat und Gesetz noch von Konzern und Algorithmus sein, sondern im Sinne sozialer und ökologischer Demokratisierung eine Daueraufgabe für gestaffelte Öffentlichkeiten mit aktiven Nutzern auf allen Ebenen. Dabei hätten auch Intermediäre wie Google und Facebook ihre Beiträge zum Zustandekommen solch vielfältiger Öffentlichkeiten zu leisten, indem sie Menschen dafür angemessen bezahlen, dass diese professionell Inhalte auf den großen Plattformen kuratieren bzw. die entsprechenden Debatten moderieren. Christian Fuchs weist zu Recht darauf hin, dass intermediäre Konzerne gemäß ihrer betriebswirtschaftlichen Rationalität Automatisierung und „Big Data“ über menschliche Praxis stellen, man aber möglichst viele Menschen weit mehr einbeziehen solle, um nicht „profits over democracy“ (noch mehr) zu etablieren. Fuchs zufolge mag gerade hier hier im Zusammenspiel zwischen Journalisten und Nutzern Neues entstehen: Gesetze sollten Medienkonzerne weltweit zwingen, zum Beispiel Journalisten als angemessen bezahlte „Fact-Checker“ zu beschäftigen. Wenn dann entsprechend viele oder auch qualifizierte Nutzer eine bestimmte Interaktion auslösen, dann könnte weit besser als bisher „demokratisch“ (und nicht gewinn- oder machtorientiert) mit-bestimmt werden, was angemessen sei und was nicht.

Öffentliche oder öffentlich-rechtliche Internetplattformen (wie Club 2.0) erscheinen dabei als sinnvolle Alternative zu Intermediären: Sie sollten möglichst werbefrei und entschleunigt sein, um damit politische Debatten und Demokratisierungen auf neue Weise zu ermöglichen.

Wer ist hier (nicht) ganz sauber?

2.) Zur Sprach- und Stilkritik: Geht es um „Alternative Fakten“, wenn tagesschau.de am 10.Januar schreibt: „Der Diesel kann auch sauber“?

Der Beitrag Hier geht es auf die Seite tagesschau.de ist allein von der Themensetzung her sehr fragwürdig, weil nicht deutlich wird, wie die Studie an der Hochschule zustande gekommen ist. Oft stehen hinter solchen Studien Auftraggeber mit bestimmten Interessen. Eher unwahrscheinlich zum Beispiel, dass die HTW Saar sich extra dafür den getesteten BMW 520d gekauft hat – die unverbindliche Preisempfehlung liegt bei 48.600 Euro. Insgesamt hat der Beitrag meines Erachtens eine klare PR-, wenn nicht sogar Werbe-Tendenz in Richtung „Pro Auto“ und nicht zuletzt „Pro Diesel“. Die Überschrift ist „sauber“ formuliert: Das Wort „sauber“ müsste doch zumindest in Anführungszeichen stehen. Oder eben in Form des Komparativs, also „sauberer“. Oder passender: „etwas weniger dreckig“.

Ich hatte genau das per Mail an Dr. Kai Gniffke geschrieben, den Leiter der Redaktion ARD-aktuell in Hamburg. Mein Schluss-Satz lautete: „Insgesamt stimmt mich dieser Beitrag sehr nachdenklich. Ich bitte um Ihr Feedback, weil es ja um Journalismus im Sinne von Öffentlichkeit und Gemeinwohlbezug geht, gerade im Bereich der öffentlich-rechtlichen Anstalten.“ Leider kam dieses Mal nur eine automatische, also nichtssagende Antwort.

Wenn allerdings am selben Tag im Teletext des ARD-Ersten um 22.50 Uhr auf Tafel 107 die Überschrift sauber getextet lautet: „Union und SPD für saubere Autos“, dann dürfen wir begründet wünschen: Gute Fahrt in Richtung Auftragskommunikation (natürlich, ohne direkten Auftraggeber, wir wissen es), wie von selbst für Regierung und (im dem Falle: deutsche Auto-)Konzerne. Oder wie man es vielleicht „am saubersten“ formulieren würde: „Mit Voll-Gas in die ganz, ganz große Koalition.“

In your Face(-book)?

1.) Die Intermediäre, also Kommunikations-Konzerne wie Facebook, Google, Amazon, Apple, Microsoft und andere, haben einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf Gegenwart und Zukunft. Das Bundeskartellamt kommt Ende 2017 zu der Zwischen-Bewertung, Facebook sei in Deutschland marktbeherrschend und sammele missbräuchlich Daten auf Millionen von Webseiten.

Wie auch Markus Reuter von der Plattform „netzpolitik.org“ schreibt, geht die Kartellbehörde davon aus, das Unternehmen mache die Nutzung davon abhängig, unbegrenzt jegliche Art von Nutzerdaten aus Drittquellen sammeln und mit dem Facebook-Konto zusammenführen zu dürfen (https://netzpolitik.org/2017/bundeskartellamt-facebooks-datensammelei-aus-drittquellen-ist-missbraeuchlich/,Aufruf am 19.12.2017, 16.30 Uhr).

Hier geht es zum Text von netzpolitik.org

Zu solchen Drittquellen gehörten nicht nur konzerneigene Dienste wie WhatsApp oder Instagram, sondern auch Webseiten und Apps anderer Betreiber, auf die Facebook über Schnittstellen zugreifen könne. Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes, äußerte: „Mithilfe von Schnittstellen fließen auch dann Daten an Facebook und werden dort gesammelt und verwertet, wenn man andere Internetseiten besucht. Dies geschieht sogar schon, wenn man z.B. einen „Gefällt Mir-Button“ gar nicht nutzt, aber eine entsprechende Seite aufgerufen hat, in die ein solcher Button eingebettet ist. Dies ist den Nutzern nicht bewusst.“

Das Bundeskartellamt konzentriere sich in diesem Verfahren auf die Sammlung und Verwendung von Nutzerdaten aus Drittquellen. Die Behörde habe offen gelassen, ob nicht auch bei der Datensammlung und -verwendung auf Plattform „Facebook“ selbst Datenschutzverstöße und ein Missbrauch der Marktbeherrschung vorlägen.

Das Bundeskartellamt führt gegen Facebook ein Verwaltungsverfahren. Am Ende des Verfahrens könne es zu einer Einstellung des Verfahrens, Verpflichtungszusagen des Unternehmens oder einer Untersagung durch die Kartellbehörde kommen. Eine abschließende Entscheidung in der Sache wurde nicht vor Frühsommer 2018 erwartet.

2.) Sprachkritisch fiel mir im „Kaleidoskop“ Folgendes auf:

a) Radio-Reporterin Anja Stöhr aus Moskau am 15.12. in der „ARD-Infonacht“: „Putin sagte, mit der russischen Wirtschaft ginge es aufwärts“. Einfach nur ein Fehler oder aber ein Freudscher Versprecher, um nicht als „Putin-Versteherin“ zu gelten? Wie dem auch sei – in einem Bericht wie diesem hat der Konjunktiv II wenig zu suchen. Für die sachliche Wiedergabe von Äußerungen gibt es den Konjunktiv I: „Putin sagte, mit der russischen Wirtschaft gehe es aufwärts“.

b) Ebenfalls öffentlich-rechtlich, im ZDF-Morgenmagazin am 19.12. ein Beitrag von Ulf Röller aus Washington über den US-Präsidenten. O-Ton Röller: „America first, brüllt Donald Trump der Welt entgegen.“ Der O-Ton von Trump ist versetzt zu hören, und ich bezweilfe, dass Trump an dieser Stelle tatsächlich gebrüllt hat. Aber selbst wenn man sich darauf einigen möchte: In einem Bericht hat ein solches Verb kaum etwas verloren. Es ist so negativ wertend, dass wir als Nachrichtenprofis darauf verzichten sollten. Lassen wir das doch bitte die Nutzer beurteilen und äußern uns einfach möglichst sachlich darüber, dass jemand anderes sich und etwas geäußert hat. Schließlich haben wir als Journalisten ja schon das Thema, die O-Töne, die sonstigen Bilder und natürlich auch unseren Sprechertext bestimmt. Vertrauen in die Mitwirkung mündiger Nutzer – warum denn nicht? Vertrauen sollte keine Einbahnstraße sein, wie es ja die vielbeschworene „Glaubwürdigkeit“ lange (viele Jahrhunderte lang 😉 ) genug war.

Abbruch oder Abtreibung?

Auch eher progressive Medien und JournalistInnen reden viel mehr von „Abtreibung“ als von „Abbruch“ (der Schwangerschaft), zum Beispiel hier: https://www.buzzfeed.com/julianeloeffler/diese-petition-will-dass-frauen-sich-legal-uber-abtreibung?utm_term=.vtANPAjpE#.ixa3NdPG7; Aufruf am 13.12.2017, 21.30 Uhr). Aktueller Kontext ist der Fall einer Ärztin aus Gießen: Sie wurde verurteilt wegen ihrer Website mit „Abtreibungsinformationen“ (so „Zeit Online“). Kristina Hänel muss demzufolge 6.000 Euro Strafe zahlen. Sie hatte „Informationen über Abtreibungen bereitgestellt“, das ist gesetzlich verboten.

Ich finde, „Abtreibung“ klingt klar negativ und wirkt auf mich sehr abwertend. Was treiben die dort? Treibt es bloß nicht zu arg! Und so weiter.

In der DDR wurden Schwangerschaftsabbrüche beschönigend „Unterbrechungen“ genannt, was sicher nicht nur verharmlosend, sondern sachlich falsch war und ist. Aber der rationale Kern dieses Sprachgebrauches bleibt, dass in jener Gesellschaft seit 1972 die Frauen (und ihre Familien) dank einer „Fristenlösung“ (zwölf Wochen) ganz legal schon weit eher und weit mehr als in der (alten) BRD mitbestimmen konnten, wie ihr Leben verlaufen soll.

Auch insofern ist die Behandlung des sicher komplexen und kontroversen Themas durch die deutsche Justiz und viele deutsche Medien bis heute nicht gerade frauenfreundlich. Solange überwiegend von „Abtreibung“ die Rede ist, werden Frauen juristisch und moralisch von oben herab behandelt. Warum nicht in informationsbetonten Texten viel mehr schlicht von „Abbruch“ reden? Vielleicht wäre das auch ein Beitrag, den merkwürdigen Paragraphen 219a des Strafgesetzbuches viel mehr in die gesellschaftliche Kommunikation einzubeziehen? Denn Geschichte und Gesetze werden ja von (uns) Menschen gemacht, und also nicht nur von „großen Männern“ bzw. „den Vätern des Grundgesetzes“. Ironie der Geschichte übrigens, die wir auch hier als dialektisch aufgehoben betrachten können: Im Straf-Paragraphen selbst wird ausschließlich von „Abbruch“ geschrieben und damit an keiner Stelle von „Abtreibung“.

So ticken JournalistInnen hierzulande derzeit

1.) Forschende von der LMU München stellten dieser Tage ihre Zusammenfassuung einer repräsentativen Befragung von 775 Journalisten (per Telefon oder online zwischen November 2014 und August 2015) vor, die zu einer Bestandsaufnahme des Journalismus in Deutschland verdichtet wurde. Die Ergebnisse zeigen laut den Autoren, dass die Zahl der Journalisten weiter geschrumpft ist, wovon insbesondere hauptberufliche freie Journalisten betroffen sind. Zudem steige das Durchschnittsalter deutscher Journalisten weiter. Politisch stünden die Befragten weiterhin eher im linksliberalen Spektrum und offenbar vor allem den Bündnisgrünen nahe. Die Akademisierung des Berufs schreite fort. Der Anteil von Journalistinnen sei im Zeitvergleich weiter angestiegen, wobei in höheren Positionen immer noch weniger Frauen anzutreffen seien. Die professionelle Autonomie sei in der Selbstwahrnehmung weiterhin sehr hoch. Nach wie vor sei das berufliche Selbstverständnis dominiert von einer neutralen Vermittlerrolle; diese Sicht habe während der vergangenen 20 Jahre sogar an Bedeutung gewonnen. Wichtiger geworden seien in den Augen der Journalisten auch die Bedürfnisse des Publikums sowie die Unterhaltungsrolle. Die Autoren gehen von einem hohen Anpassungsdruck auf die JournalistInnen vor allem im jüngsten Jahrzehnt aus, vor alle durch Ökonomisierung und Digitalisierung (404). JournalistInnen richteten an neuen Logiken der Auswahl, der Interpretation und der Inszenierung aus (406). Anhand von Definitionen von „Journalist“ (mindestens 50 Prozent des Einkommens aus diesem Feld) und von „Redaktion“ (eigenständige Produktion journalistischer Inhalte) bestimmten die Forscher eine Grundgesamtheit von ca. 41.250 Journalisten in Deutschland (411), davon rund 9600 Freie.
Einige konkrete Ergebnisse: Frauenanteil 40 Prozent (2005: 37 Prozent), die politische Einstellung wurde leider nicht mit Parteinähe abgefragt, sondern als Links-Rechts-Skala, dort lag der Mittelwert mit 3,96 näher am linken Pol und darf als Fortschreibung der strukturellen Nähe vor allem zu den Bündnisgrünen interpretiert werden (414). 75,5 Prozent haben studiert, das sind fast sieben Prozentpunkte mehr als 2005. Bei den Freien verfügen sogar 82 Prozent über einen akademischen Abschluss. Die relativ meisten Befragten (fast ein Viertel) bekommen monatlich zwischen 1801 und 2400 Euro (415). Etwas mehr als ein Viertel der JournalistInnen arbeitet multimedial, ist also für mehr als eine Mediengattung tätig (417). Die Artikulationsaufgabe der journalistischen Medien als wichtiger Aspekt ihrer öffentlichen Funktion (siehe Landespressegesetze) wird anscheinend noch immer unterschätzt: In einer aktuellen Studie (420) gaben nur 46,9 Prozent der (2014/2015 befragten) JournalistInnen in Deutschland, es extrem wichtig oder sehr wichtig zu finden, dass sie „den Menschen die Möglichkeit geben, ihre Ansichten zu artikulieren“. Frauen sagten diese immerhin zu 48,9 Prozent, während es bei den Freien sogar nur 37,5 Prozent waren. Das mag darauf hindeuten, dass Redaktionen für feedbackoffenes Arbeiten eher mehr als weniger Ressourcen benötigen.

(STEINDL 2017 – Steindl, Nina; Lauerer, Corinna, Hanitzsch, Thomas: Journalismus in Deutschland. Aktuelle Befunde zu Kontinuität und Wandel im deutschen Journalismus. In: Publizistik, Heft 4/2017, Seite 401-423)

2.) In den ZDF-Nachrichten hieß es am 21.11. um 7.30 Uhr: „Nach Angaben der US-Regierung hätte sich die Lage nach dem schweren Erdbeben auf Haiti 2010 so weit stabilisiert, dass die Menschen zurückkehren könnten.“ Das ist „doppelt gemoppelt“, um die Version der US-Regierung als solche kenntlich zu machen. Wenn die Quelle im Hauptsatz gemeinsam mit dem indirekten Zitat genannt wird, dann sollte in der Wirklichkeitsform, also im Indikativ, getextet werden.

Zum Beispiel: „Laut eigenen Angaben wird sich die SPD Gesprächen nicht verweigern“.

Das sieht auch die Gesellschaft für deutsche Sprache so: Bei Redewiedergaben, die nicht als Redeeinleitung und Rede in einer Hauptsatz-/Nebensatzkonstruktion auftreten, sondern die eine präpositionale Quellenangabe wie z. B. laut, zufolge oder nach enthalten,
heute noch regnen. Nach neuesten Meldungen drohen neue Streiks. Diese Konkurrenzformen der indirekten Rede hört und liest man häufig in Nachrichten oder Zeitungsartikeln, und zum Teil wird hier auch der Konjunktiv gebraucht. In der Fachliteratur besteht aber die Ansicht, dass bei dieser Konkurrenzform der Sprecher lediglich übermittelt, was ein Dritter gesagt hat. Er gibt tatsächlich Geäußertes wieder und bringt nicht seine Haltung zum Gesagten ein. Hierbei handelt es sich formal wie inhaltlich nicht um indirekte Rede, und deshalb ist in Sätzen, die eine präpositionale Quellenangabe verwenden, der Indikativ die zu wählende Form (vgl. Laila Carlsen: Redewiedergebende Sätze mit präpositionalen Quellenangaben. In: Neuphilologische Mitteilungen 95 (1994), S. 467–492; Duden Richtiges und gutes Deutsch, Mannheim 2007, S. 472).

Zeitung geht weiter – hier die NYT

1.) „Zeitung“ soll sich ja von „zidunge“, Zeitzunge, herleiten, schon um 1300 verwendet im Kölner Raum, also lange Zeit, bevor mit beweglichen Lettern hierzulande dann gedruckt wurde. Und auch daher mag es Zeitungen, so oder so, weitergeben, als „Zeitzunge“.
Der Ex-BBC-Generaldirektor Mark Thompson, ein Brite, führt seit 2012 als CEO die „New York Times“ (siehe http://meedia.de/2017/11/14/was-deutsche-zeitungsverleger-vom-chef-der-new-york-times-lernen-koennen/?utm_campaign=NEWSLETTER_MITTAG&utm_source=newsletter&utm_medium=email, Aufruf 14.11.2017, 18.00 Uhr). Die New York Times gilt als weltweites Leuchtturm-Medium und vielen als DIE Zeitung. Der NYT ging es Ende 2017 mitten im digitalen Wandel relativ gut. Von Januar bis September 2017 wuchs ihr Umsatz um fast sieben Prozent, die Zeitung zählte über zwei Millionen zahlende Digital-Abonnenten.

Geschäftsführer Mark Thompson sagte im Interview mit Ken Doctor vom „NiemanLab“ (http://www.niemanlab.org/2017/11/newsonomics-the-new-york-times-mark-thompson-on-regulating-facebook-global-ambition-and-when-to-stop-the-presses-forever; Aufruf 14.11.2017, 18.10 Uhr), er rechne damit, dass Print-Anzeigen 2018 zum nur noch viertgrößten Umsatzaspekt werden, nach Print-Aboverkäufen, Digital-Aboverkäufen und Digital-Anzeigen. Der Anteil von Print-Anzeigen bei der Times sank (ähnlich wie z.B. bei der deutschen FAZ) von früher 75 bis 80 Prozent auf nunmehr 17 Prozent am Gesamtumsatz.

Thompson bezeichnet Print als „gereifte Plattform“. Mag heißen: Wachstum ist hier nicht mehr zu erwarten. Trotzdem hat die Times noch über eine Millionen Abonnenten ihrer umfangreichen Sonntagsausgabe. Die Print-Anzeigen schwinden in deutlich schnellerem Tempo, als die Auflage sinkt. Das Print-Modell der New York Times könne aber sogar ganz ohne Anzeigen noch Gewinn erwirtschaften, sagte Thompson. Auf lange Sicht könne er sich eine Zukunft für die NYT ganz ohne Print-Plattform durchaus vorstellen.

Unter Thompsons Führung hat sich die New York Times eine „Subscribers first“ Strategie verordnet. Die Umsätze, die direkt von den zahlenden Abonnenten kommen, wurden zur Lebensader der Zeitung und machten Ende 2017 (Digital und Print) 62 Prozent am Gesamtumsatz aus. Erklärtes Ziel blieb, dass 70 Prozent des Gesamt-Umsatzes von Abo-Erlösen kommen. 2012 lag die Abo-Quote am Umsatz noch bei 44 Prozent.

Was Reichweiten angeht, kann selbst die New York Times nicht den Vergleich mit neuen Digitalmedien oder Social-Media-Riesen gewinnen. Dafür gilt ihr Marken-Image als sehr gut. Die Zeitung sei eine wesentlich sicherere Marke für Werbetreibende als einige der Silicon Valley-Unternehmen, sagte Thompson. Sollte heißen: Bei der NYT konnten Firmen sicher sein, dass ihre Werbung in einem vergleichsweise seriösen Umfeld steht – anders als bei manchen Plattformen. Dass sich die Millennials von alten Medien wie der Times abwenden würden, wies Thompsson zurück. Im Gegenteil. Medienmarken wie die New York Times wurden eben nicht durch neue Marken wie die Huffington Post oder Buzzfeed ersetzt. Die NYT hatte laut Thompson rund 35 Millionen Millennials bei den Unique Visitors aus den USA.

Bemerkenswert: Die New York Times verkaufte eigene digitale Abo-Pakete für ihre Kreuzworträtsel. Die Zeitung hatte über 300.000 zahlende Kreuzworträtsel-Abonnenten. Auch Koch-Ratgeber und Produkttests waren im Angebot.
Thompson wünschte weitere zusätzliche Abo-Produkte für die NYT, im Sinne von Diversifizierung.

2.) Sprachkritisch im Kaleidoskop heute betrachtet: Im RBB-Inforadio wurde am 15.11.2016 um 21.12 Uhr in einem Bericht zum Obama-Besuch gesagt: „Viele Griechen bezweifeln allerdings, ob das unter Donald Trump so weitergeht.“ Ich denke, hier sollte es „zweifeln“ heißen, und das Wort „ob“ lässt es in der Waage, inwiefern es weitergeht. „Bezweifeln“, sofern es nicht gleichbedeutend ist mit „zweifeln“, jedoch scheint mir schon stärker, weshalb ich sagen würde: „Viele Griechen bezweifeln allerdings, dass das unter Donald Trump so weitergeht.“ Ein anderes Beispiel, um den Unterschied zu verdeutlichen: „Er weiß nicht, dass Du kommst“ geht von dem Fakt des Kommens aus. „Er weiß nicht, ob Du kommst“ lässt die Wahrscheinlichkeit des Kommens im Ungefähren, vielleicht bei etwa 50 Prozent.

Wellnesszonen für Geschundene?

Angesichts der sogenannten „Paradise Papers“ ist in deutschen Medien immer wieder nachrichtlich die Rede von „Steueroasen“, von denen offenbar manche wie Malta oder Irland direkt zur EU gehören (siehe http://www.tagesspiegel.de/politik/neues-datenleck-zu-offshore-geschaeften-brisante-paradise-papers-enthuellen-steueroasen/20544142.html, Aufruf am 8.11.2017, 19.45 Uhr). Was bedeuten (uns) diese „Steueroasen“? Kai Biermann hatte dazu schon 2013 Erhellendes geschrieben (http://www.zeit.de/wirtschaft/2013-04/steueroase-schimpfwort/komplettansicht, Aufruf am 8.11.2017, 19.50 Uhr).

Das Wort klingt insgesamt noch immer ziemlich positiv. „Oase“ ist der einzig wohnliche Ort inmitten von Wüste. Wortgeschichtlich kommt ja „Oase“ vom griechischen „óasis“ für bewohnter Ort, was wiederum auf das koptische „ouahe“ für Anpflanzung zurückgeht. Nur dort mag also überhaupt etwas gedeihen – die Umgebung ist lebensfeindlich. Damit ist die Oase ein schöner Flecken Erde, geradezu ein Sehnsuchtsort wie ein Paradies.

Und jetzt kommen die Steuern ins sprachliche Spiel: Mitten in der Wüste, in der alles wohlverdiente Geld sofort im Sande (des Staates) versickert, soll es Oasen für Leute mit (viel) Geld geben, in denen sie sich (ja, sogar als „Flüchtlinge“) vor dem Verfolgungsdruck der Finanzbehörden ein wenig ausruhen und zu neuen Kräften kommen können. Die „armen“ Wüstenwanderer. Ganz ähnlich, wie viele Menschen vor Krieg, Armut oder Erdbeben flüchten (vor lauter schrecklichen Sachen), scheinen andere vor dem GAU „Steuern“ zu fliehen, im Sinne einer bewussten Entscheidung. Oase gut, Steuern schlecht, fertig ist das Schwarz-Weiß-Bild.

Bemerkenswert, wie – über die normale kapitalistische Aneignung des Mehrwertes durch die Unternehmerseite hinaus – hier gleichsam mit verständnisvollem Augenzwinkern noch die nächste und übernächste Ausbeutungsstufe legitimiert werden: Das Steuerrecht und die Steuermoral bevorzugen in der Tendenz ohnehin die „Leistungsträger“, also diejenigen, die vor allem andere für sich arbeiten lassen. Aber auch vor dem Steuerrecht und nicht zuletzt für viele Medien scheint zu gelten, was George Orwell schon 1945 in seiner „Animal Farm“ beschrieben hatte: „Alle Tiere sind gleich, ABER MANCHE SIND GLEICHER.“

„Steuerverstecke“ wäre wohl, wie auch Kai Biermann meint, ein treffenderer Ausdruck für diese Orte.

Wer nicht manipuliert, der hebe die Hand …

1.) Der von mir geschätzte Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat heute in der „Zeit“ einen medienkritik-kritischen Essay unter dem Titel „Das gefährliche Raunen“ publiziert (http://www.zeit.de/kultur/2017-10/medienkritik-ideologie-journalismus-gesellschaft, Aufruf am 1.11.2017, 20.30 Uhr). Seine Kernthese mit Blick auf die Mediennutzer hierzulande: „Der Verdacht, von den öffentlich-rechtlichen Medien und vermeintlich übermächtigen Journalisten manipuliert zu werden, ist gewandert – vom rechten Rand bis in die Mitte der Gesellschaft.“ Pörksens Fazit: „Die gegenwärtig kursierenden Theorien der Entmündigung und der Manipulation, Chiffren eines antiliberalen Denkens und einer heimlichen Sehnsucht nach der Revolte, helfen niemand (-em, SeK). Und sie ruinieren das Vertrauensklima, das guter Journalismus bräuchte, gerade jetzt und gerade heute.“ Das finde ich in wichtigen Aspekten doch erstaunlich oberflächlich: Natürlich (sic!) manipulieren alle Medien und alle Journalisten, im Sinne von: Sie greifen ein, bewusst oder auch routiniert, sie haben und sie vertreten Interessen, sie schaffen (natürlich kaum willkürlich) Medien-Realitäten, die den anderen Realitäten mehr oder weniger entsprechen (sollten). Es wäre doch ein Zeichen wachsender Medienkompetenz, wenn diese Erkenntnis weiter wüchse. Und warum „die liberale Mitte“ der aufgeklärtere, ja bessere Teil der Gesellschaft sein soll, womöglich gar ihr „unideologischer“, erschließt sich mir ebenfalls nicht. Dass in unserer Gesellschaft insgesamt „Vertrauensklima“ nicht gerade Konjunktur hat, liegt vielleicht auch im Abschmelzen der „Mitte der Gesellschaft“ durch Sozialabbau und ähnliche allgemeine Krisenerscheinungen. Wenn diese Probleme nicht autoritär oder gar faschistisch gelöst werden sollen, dann haben (wir) Journalistinnen und Journalisten viel zu tun im Sinne der kulturellen Aufgaben öffentlicher Medien zur modernen Demokratisierung von Gesellschaften (wie das schon 1990 ähnlich mein späterer Doktorvater Hans-Peter Krüger mit Bezug auf Bertolt Brecht formulierte). Brecht hatte seinerzeit zwei kluge Vorschläge gemacht: den viel zitierten und dennoch heute aktueller denn je wirkenden Vorschlag, den Rundfunk aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln, also mit Perspektivenwechseln und Rückkopplungen vielfältig auf ganz neuem Niveau. Und seine weniger bekannte Offerte, Volksherrschaft als Herrschaft der Argumente zu begreifen. Das bedeutet meines Erachtens die Modellierung von Demokratie als einer informationell aufgeklärten gesamtgesellschaftlichen Verkehrsweise, die in ihren Kognitionen, Kommunikationen und Kooperationen argumentatives Niveau erreicht, also möglichst zwanglos überzeugendes.

2) Sprachkritisch bemerkenswert: „Der ZDF-Komiker Jan Böhmermann sorgte vergangene Woche mit einer 20-minütigen Wutrede gegen die Millennial-Website Bento, ein Ableger von Spiegel Online, für Aufsehen.“ Das schreibt Stefan Winterbauer von der dortigen Chefredaktion im Branchendienst „meedia“. (http://meedia.de/2017/11/01/nach-der-boehmermann-wutrede-warum-der-digitale-boulevard-von-bento-watson-vice-co-besser-ist-als-sein-ruf/?utm_campaign=NEWSLETTER_MITTAG&utm_source=newsletter&utm_medium=email, Aufruf am 1.11.2017, 21.12 Uhr). Es sollte sicher und besser heißen: “ (…) gegen die Millennial-Website Bento, EINEN Ableger von Spiegel Online (… )“. Nur, weil manche Millenials wie auch Andere mit der Kongruenz Probleme haben – also mit der Übereinstimmung von einander entsprechen sollenden Satzteilen in wichtigen Eigenschaften wie hier dem korrekten Fall -, muss man ihnen zumindest in dieser Hinsicht ja nicht nach dem Munde schreiben.

Mehr beitragen, weniger senden!

Brauchen wir „Das Erste“ der ARD? Dieser Tage hat ja der CDU-Kultusminister von Sachsen-Anhalt, Rainer Robra (bis 1990 Niedersachsen), die Existenzberechtigung von „Das Erste“ (Programm der ARD) überraschend deutlich infrage gestellt. War das ein schon spezielles Blinken (oder Blinkern) in Richtung AfD? Oder lässt sich ein rationaler Gehalt in des Konservativen populärer Medienschelte rekonstruieren? Der Branchendienst „meedia“ weist hier – wohl unfreiwillig – auf einen Kern des schwarzen Pudels hin (http://meedia.de/2017/10/17/tagesschau-ueberfluessig-kanzlerduell-und-hollywood-filme-ins-zdf-cdu-minister-aus-sachsen-anhalt-fordert-radikalen-ard-umbau/Aufruf am 19.10.2017, 22.07 Uhr):

„Allein dies wäre eine interessante Frage: wie würden die Politiker in Berlin reagieren, wenn man ihnen mit der „Tagesschau“ die mit Abstand größte und reichweitenstärkste Bühne nehmen würde, ihre Politik zu erklären.“

Wenn es so sein sollte, wie „meedia“ hier die Lage vermutlich sachlich zu beschreiben meint, dann wäre die „tagesschau“ genau jenes Sprachrohr vor allem der herrschenden Politiker, das Leute vom Schlage Gaulands (und Robras?) in ihr zu sehen vorgeben. Nein, es sollte eben nicht Aufgabe von „tagesschau“ & Co. sein, dass die Mächtigen „ihre Politik erklären“ dürfen. Sondern, dass wir Journalisten möglichst unabhängig informieren und Beiträge zur Meinungsbildung bieten, dass wir kritisieren und kontrollieren sowie wichtige Tendenzen unserer Gesellschaft artikulieren. Steht unter anderem in den 16 deutschen Landespressegesetzen. Also exemplarisch objektivieren durch Perspektivenwechsel, durch Transparenz, durch Außenreferenz, durch Vielfalt der Verantwortlichen und der Mitarbeiter, durch Vielfalt der Themen, Meinungen und Darstellungsformen.

And now for something completely different, wie es ja bei Monty Python so schön heißt:

Hier mein aktueller Mailwechsel mit der Redaktion der bundesweit reichweitenstärksten politischen Talksendung, „Anne Will“, zu sehen sonntags nach dem Krimi in jenem „Das Erste“, dass CDU-Robra erklärtermaßen abschaffen will:

25.9. :
Sehr geehrte Redaktion von „Anne Will“, habe gerade gelesen beim Handelsblatt, dass Ihr Vertrag mit der ARD bis 2020 verlängert wurde! Gratulation!

Umso wichtiger mein Anliegen: Ich kann nicht verstehen, warum bei der gestrigen Sendung Ihres Formates wieder einmal ALLE nunmehr im Bundestag vertretenen Parteien präsent waren – mit einer Ausnahme: Es fehlte erneut jemand von „Die Linke“. Obwohl ja sechs Plätze in der Runde vorhanden waren. Keine Ahnung, weshalb schon wieder Hans-Ulrich Jörges Gast der Sendung war. „Die Linke“ ist nunmehr zum dritten Male in Folge bei einer Bundestagswahl (2009, 2013, 2017) stärker als die Grünen – leider findet das auch und gerade in den uns allen verpflichtet sein sollenden öffentlich-rechtlichen Medien kaum angemessenen Ausdruck. Erbitte als Journalistik-Wissenschaftler und journalistischer Kollege freundlichst Ihre Antwort – bleiben wir gemeinsam dran und beste Grüße: Sebastian Köhler.

Am 26.09.2017 um 11:58 schrieb die dortige Zuschauerredaktion:

Sehr geehrter Herr Köhler,
Vielen dank für Ihre Mail. Zu Ihrer Frage bezüglich der Gästeauswahl:
Die Sendung „Anne Will“ am Wahlabend war eingebunden in eine umfassende ARD-Wahlberichterstattung. Im Anschluss an die „Berliner Runde“ mit allen sieben im Bundestag vertretenden Parteien, war der Anspruch der Sendung, den Zuschauern eine Analyse der Wahlergebnisse zu liefern und einen Ausblick auf das, was diese Ergebnisse für die Zukunft bedeuten könnten. Dafür hat die Redaktion die Parteien mit den höchsten Gewinnen und Verlusten eingeladen und die Parteien, die die theoretische Chance haben, eine künftige Bundesregierung zu stellen. Dazu gehört „Die Linke“ nicht, sie wird aber sicher in einer der kommenden Sendungen wieder vertreten sein. Die Redaktion achtet sehr genau darauf, dass in der Summe der Sendungen eine faire und angemessene Einladungspraxis alle relevanten Meinungen zu Wort kommen lässt.
Mit freundlichen Grüßen,
Ihre ANNE WILL – Zuschauerredaktion

Ich schrieb dann am 1.Oktober Folgendes:

Sehr geehrte Redaktion von „Anne Will“, zwei Fragen:
1.) Warum senden Sie Kritikern Ihrer Sendung vom 24.9. (die monierten, dass kein Vertreter der Linken dabei war, obwohl sonst ALLE Fraktionen des neuen Bundestages vertreten waren plus Herr Jörges) offenbar diesselbe vorgefertigte Antwort? Ich habe von mehreren Bekannten mitbekommen, dass Sie also anscheinend einen identischen Text versenden, der weder inhaltlich überzeugt noch irgendwie auf den jeweiligen Einzelfall der Kritik eingeht. Das ist sehr schade und zeugt leider nicht davon, dass Sie es mit dem Feedback der Nutzer und mit Ihrem Feedback darauf besonders ernst nähmen.

Wenn Sie allerdings so viele kritische Äußerungen „von links“ bekommen haben sollten, dass Sie nicht jede Kritik einzeln beantworten konnten – nun, dann sollte das für Ihre Redaktion erst recht ein Grund für ernsthafte Selbstkritik sein.

2.) Woraus sich direkt Frage zwei ergibt: Wieso war in Ihrer heutigen Sendung WIEDERUM kein Vertreter des bisherigen Oppositionsführers Linkspartei anwesend? Falls Sie antworten wöllten, dass auch die AfD diesmal nicht vertreten war – das machte es nicht besser! Täuscht der Eindruck, dass namentlich die Bündnisgrünen und die FDP seit Monaten und auch an Tagen wie diesen über jedes vernünftige Maß hinaus präsent sind auch in Ihrer Sendung? Gemessen an ihren Wahlergebnissen?

Erbitte nunmehr dringend Ihre möglichst differenzierte Antwort und nicht schon wieder eine kaum überzeugende pauschale Massen-Abfertigung!

Mit freundlichem Gruß: Sebastian Köhler

Am 11.10.2017 um 19:01 schrieb ich dann:

Erbitte endlich eine Antwort von Ihnen – mfG: Sebastian Köhler

Und siehe da, schon einen Tag später, am 12.10.2017 um 16:59, erwiderte die Zuschauerredaktion:

Sehr geehrter Herr Köhler,

es handelte sich bei unserer Antwort um eine redaktionelle Stellungnahme, die wir deswegen selbstverständlich mehrfach verschickt haben. Wenn Sie diese als „kaum überzeugende pauschale Massen-Abfertigung“ wahrnehmen, so ist das bedauerlich, es ändert aber nichts an unserer Positionierung zu diesem Thema. Wir kündigten in dieser Stellungnahme auch an – was Ihre zweite Frage betrifft – dass demnächst wieder ein Vertreter der Linken in der Sendung zugegen sein werde, was in Gestalt von Herrn Gysi in der letzten Sendung auch der Fall war.

Mit freundlichen Grüßen, die ANNE WILL Zuschauerredaktion

Woraufhin ich am selben Tag schrieb:

Sehr geehrte Redaktion von „Anne Will“, Danke für Ihre Antwort.

Ich finde es wichtig (als Verteidiger des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im dualen System), dass Sie auf sachliche Kritik der Bürgerinnen und Beitragszahler auch möglichst konkret eingehen – (mangelndes) Feedback ist meines Erachtens einer der Hauptaspekte des aktuellen Wandels im Journalismus.

Insofern lassen Sie uns bitte gemeinsam dranbleiben im Interesse gelingender Kommunikation in unserer Gesellschaft!

Mit freundlichem Gruß: Sebastian Köhler

Darauf gab es, nicht sehr überraschend, leider keine Antwort mehr bis dato. Dennoch liegt es mir fern, die Abschaffung des „Ersten“ zu fordern. Allerdings gibt es gerade bei den öffentlich-Rechtlichen, im Großen wie im Kleinen, einen beträchtlichen Reformbedarf. Wahrscheinlich sogar mehr als nur den. Auch darüber müsste möglichst öffentlich und vielfältig diskutiert werden. Können die öffentlich-Rechtlichen nicht zuletzt dazu deutlich Besseres beitragen als bisher? Das wäre überhaupt ein gutes Motto, finde ich, für jeden von uns und erst recht für die öffentlich-rechtlichen Anstalten: Mehr beitragen, weniger senden!

2.) Noch ganz kurz eine Prise Sprachkritik im Kaleidoskop: „CDU-Regierungschef Günther warnt CSU vor Jamaika-Sondierungen“, schrieben verschiedene Medien am 27.9.2017 (siehe unter anderem https://newstral.com/de/article/de/1075975226/cdu-regierungschef-jamaika-erfordert-zur%C3%BCckhaltung-der-csu; Aufruf am 19.10.2017, 22.42 Uhr). Mit den Präpositionen ist es oft ein vertracktes Ding im Deutschen – „Ich warne Dich vor etwas“ ist in der Regel weder räumlich noch zeitlich gemeint, sondern sachbezogen. Hier aber wird es, entgegen den Erwartungen, zeitlich gemeint – und ist damit „vor“ allem eines: ziemlich verwirrend. Wie ginge es besser? „Vor Beginn der Jamaika-Sondierungen warnt Günther die CSU“ zum Beispiel.

Das nächste Mal bitte im Container!

1.) War es angemessen seitens der Behörden, das Foto der Vierjährigen, die laut BKA Opfer schlimmsten sexuellen Missbrauches war und weiter in großer Gefahr schwebte, als Fahndungshilfe zu veröffentlichen? Es war immerhin der Staatsanwaltschaft zufolge das erste Mal in Deutschland, dass dieser Weg einer Fahndung nach einem Mißbrauchsopfer und nach dem Täter gegangen wurde (siehe unter anderem Hier geht es zur Seite der Berliner Zeitung, Aufruf am 11.10.2017, 18.30 Uhr). Staatsanwaltschaft, Polizei und ein Richter haben damit ein Tabu gebrochen – und viele Medien machten mit. War das angemessen seitens der Redaktionen? Generell lautet ein wichtiger Einwand (zumindest gegen Medien als Co-Fahnder), dass durch solche quotenträchtigen Veröffentlichungen regelmäßig auch Menschen in Verdacht und Verruf geraten, die mit der Straftat gar nichts zu tun haben.

Das Netz vergisst wenig

Das schnelle Ergreifen eines laut Polizei dringend Tatverdächtigen aus dem Umfeld des Kindes scheint Behörden und Medien in diesem aktuellen Einzelfall recht zu geben. Schnell wurde dann auch allseits gebeten, die Fotos des Mädchens nun wieder zu löschen. Aber: Die Bilder sind viral im Netz unterwegs (über das Darknet hinaus) und entwickeln dort ein Eigenleben. Der Aufruf auf der BKA-Seite mit den Fotos war fast 400.000 Mal genutzt worden, bei Facebook sogar rund eine Million mal.

Ich fürchte, nach dem Leiden unter dem Täter wird das Mädchen sein Leben lang weiterhin auch von diesen Bildern verfolgt werden. Datenschutzbeauftragte weisen daher in solchen Lagen darauf hin, dass es auch anders ginge – und meines Erachtens gehen sollte: Die entsprechen Aufnahmen könnten in einem eigenen sogenannten Container auf der Internetseite der Ermittler abgelegt werden. Auf diesen Container mag dann auf allen Plattformen verwiesen werden. Sollen die Aufnahmen schließlich gelöscht werden, wird der Container geschlossen, und die Aufnahmen sollten aus dem Netz verschwinden. Das ist sicher etwas mühsamer (und weniger quotenträchtig) als das einfache Kopieren und Weitergeben, sollte aber den Aufwand wert sein (vgl. u.a. Hier geht es zur Seite der Lausitzer Rundschau, Aufruf am 11.10.2017, 18.40 Uhr).

2.) Zum sprachkritischen Kaleidoskop: Im oben erwähnten Artikel aus der „Berliner Zeitung“ findet sich auch folgender Absatz: „Es sei das erste Mal gewesen, dass man den Weg einer öffentlichen Fahndung nach einem Missbrauchsopfer gegangen sei. Allerdings gebe es auch regelmäßig Schulfahndungen, bei der gezielt einer bestimmten Gruppe Fotos gezeigt würden. Dies geschehe aber eben nicht öffentlich.“.

In Übereinstimmung (mit den Regeln)

Ein Fallbeispiel des leider zunehmenden Problemes (mit) der Kongruenz, also der Übereinstimmung. Kongruenz (lateinisch congruentia „Übereinstimmung“) meint in der Sprachwissenschaft die Übereinstimmung von Satzteilen in bestimmten grammatischen Merkmalen. Wichtiges Beispiel im Deutschen ist die Übereinstimmung von Subjekt und Verb in den Merkmalen Person und Zahl (Numerus). „Schulfahndungen“ im Hauptsatz ist ein Wort in der Mehrzahl, und dann muss auch der Platzhalter dafür im Nebensatz im Plural stehen: …“bei DENEN (nicht: der) gezielt (…) Fotos gezeigt würden.“

AfD und kein Ende

1.) Medienkritisch interessant: In einem Interview wird der Soziologieprofessor Holger Lengfeld von der Uni Leipzig von der SZ befragt (http://www.sueddeutsche.de/kultur/abgehaengte-bevoelkerungsgruppen-afd-waehler-sind-nicht-wirtschaftlich-sondern-kulturell-abgehaengt-1.3675805, Aufruf am 22.9.2017, 13.30 Uhr)

Was würden Sie den Medien raten, um wieder an Glaubwürdigkeit zu gewinnen?

Die Antwort des Soziologen kann ich gut nachvollziehen: „Überlegen Sie, inwiefern Ihre Berichterstattung beeinflusst ist durch das, was Sie politisch und gesellschaftlich selbst denken. Dann ist die Chance größer, dass Berichterstattung unparteiischer ausfällt. Bringen Sie mehrere Perspektiven, auch von Menschen, die ganz andere Wertevorstellungen haben. Gar nicht so lange nach der Flüchtlingskrise, schon im Herbst 2015, kam es bei Journalisten zu Selbstreflektionen. Damals waren die Medienberichte voll von der Hilfsbereitschaft der Deutschen, und dann hat man durch das Erstarken der AfD bei den Landtagswahlen plötzlich bemerkt, dass man ein Phänomen übersehen hat. Viele Medienschaffende waren als Bürger sehr stark mit der Hilfsbereitschaft einverstanden und wollten darüber berichten. Wenn man die Ressentiments übersieht und da nicht mehr hinguckt, kommt es zu Problemen.“

Weit weniger kann ich seine Argumente nachvollziehen zum Thema, wo die offenkundige Unzufriedenheit von AfD-Wählern herkommt. Die SZ fragte in dieser Richtung:

Wie sieht das historisch aus? Wurde der „kleine Mann“ oder auch einfach der unzufriedene Bürger in früheren Jahrzehnten weniger übersehen? Gibt es da einen Wandel?

Der Soziologe antwortet: „Man darf die Steuerungsfähigkeit der Politik nicht überschätzen. Das Kleine oder Große am Mann oder der Frau wird im Bereich der Wirtschaft entschieden. Die Politik kann nur an den Verteilungsverhältnissen etwas ändern. In Westdeutschland wurde mit dem Wirtschaftswunder seit Mitte der 50er Jahre immer spezifischer versucht, unterschiedlichste Lebenslagen materiell zu unterstützen. Deshalb kann ich nicht erkennen, dass der kleine Mann früher mehr Beachtung bekommen hat als heute. Was sich geändert hat, sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die die Politik kaum beeinflussen kann. Wenn etwas woanders deutlich billiger hergestellt wird, endet die Steuerungsfähigkeit.“

Das erscheint mir als eine Art Bankrotterklärung des Soziologen: Wenn der Bereich der Wirtschaft vom Bereich des Politischen und damit auch der Demokratie derart getrennt (betrachtet) wird, dann könnte man wohl sagen, dass es VW-Chef Müller oder Siemens-Chef Kaeser ziemlich egal sein dürfte, wer unter ihnen Kanzler ist – ob nun Merkel oder Schulz. Und dann muss man sich über Politikverdrossenheit, Wahlmüdigkeit oder eben AfD-Wählen nicht wundern.

Verzerrt

2.) Zur aktuellen Sprachkritik in meinem Kaleidoskop: Die AfD und ihr Wahlergebnis sind in vieler Munde, auch in dem von ZDF-Moma-Moderatorin Dunja Hayali. Frau Hayali sagte am Tag nach der Bundestagswahl, die AfD habe „auf Anhieb“ oder auch „aus dem Stand“ ihre 12,6 Prozent Zweitstimmenanteil erreicht. Wieso das? Die Partei war bereits bei der Wahl davon angetreten, hatte 2013 mit 4,7 Prozent allerdings den Einzug in den Bundestag verpasst. Sonst müsste man auch sagen, die FDP habe „aus dem Stand“ ihre 10,7 Prozent erreicht. Und auch das stimmt offensichtlich nicht. Mein Vorschlag: Die AfD weder ignorieren noch skandalisieren, sondern im informationsbetonten Bereich des Journalismus (im Unterschied zum meinungsbetonten) sachlich das Angemessene vermitteln. Und wie zur Illustration dieses Problemes sagt Frau Hayali am Freitag, 29.9., „die AfD will die Kanzlerin vor einen Untersuchungsausschuss zerren“. Hallo – wieso „zerren“? Das ist ein extrem wertendes Verb. Warum nicht „bringen“, was relativ sachlich wirkt? Oder meinetwegen auch „zitieren“, schon wertender. Aber „zerren“, sorry, das verzerrt doch jede Objektivierung in solchem Kontext.