Totgesagte leben länger – aus welchem Grund?

Von Sebastian Köhler

1.) Zu „aktuell“ können Journalisten last but not least werden, wenn sie vorbereitete Nachrufe vor der Zeit veröffentlichen. Kaum zu übertreffen der Klassiker dieses Genres, als im Jahre 2007 kein geringerer als der Bayerische Rundfunk einen Nachruf auf den seinerzeit nicht nur lebenden, sondern auch noch als Landesvater amtierenden Edmund Stoiber sendete. Kurz vor dem Jahreswechsel brachte Spiegel Online diese äußerst aufmerksamkeits-wirksame Darstellungsform wieder in Erinnerung: Nicht auf der Homepage, aber über hyperaktive Kanäle wie Twitter und RSS machte die „Nachricht“ die Runde, dass George Bush senior (US-Präsident von 1989 bis 1993) gestorben wäre (http://kress.de/mail/alle/detail/beitrag/119462-chefredakteur-ditz-entschuldigt-sich-spon-bringt-versehentlich-nachruf-auf-bush-senior.html, Aufruf am 9.1.2013, 11.52 Uhr). Spon-Chefredakteur Rüdiger Ditz bat um Entschuldigung, und zumindest die alte angelsächsische Journalisten-Weisheit scheint lebendiger denn je: „Get it first, but first get it right!“ Auch ihre kleine Schwester „If in doubt, leave it out!“ ist ganz klar eine Un-Tote, da wir uns fragen (lassen) müssen, inwiefern Technisierung und Ökonomisierung sich mittlerweile soweit verselbständigt haben, dass für ein Redigieren im guten alten Sinne kaum noch Zeit zu bleiben scheint – zumindest in diesem Leben.
2.) Die Meinungsforscherin Renate Köcher ist seit dem Tod von Elisabeth Noelle-Neumann 2010 alleinige Geschäftsführerin des (konservativ ausgerichteten) Instituts für Demoskopie Allensbach. Sie meint aktuell nicht nur, dass Zeitungen unterschätzt würden, sondern bietet erklärungskräftige Thesen zum Wandel von Aufmerksamkeit (als dem symbolisch-generalisierten Medium im sozialen Subsystem Öffentlichkeit): Das Internet verstärke die klare Selektion entlang nutzer-eigener Interessen. Das Interessenspektrum der nach 1982 Geborenen sei deutlich enger als das früher Geborener. Sowohl Ursache als auch Wirkung der verstärkten Internet-Nutzung (im Gegensatz z.B. zur Zeitungsnutzung ) sei, das gerade junge Nutzer in ihren Interessen „wesentlich fokussierter“ seien als andere/frühere Nutzer und sich dabei auf weniger Themen beschränkten – diesen dafür aber relativ aktiv viel Zeit und Aufmerksamkeit widmeten (vgl. BLZ 2.1.2013, S.25). Problematischer wird damit, dass privat-relevante Themen immer mehr Interesse finden, während es öffentlich-relevante Themen (Politik, Wirtschaft, Grundrechtsfragen, Wissenschaft, Umwelt) im jüngeren Mainstream immer schwerer zu haben scheinen. Das verlangt nach gesellschaftlicher Aufmerksamkeit!
3.) Zum sprachkritischen Kaleidoskop: In den ZDF-Morgenmagazin-Nachrichten war am 7.1. zu hören, Grund für Ausschreitungen von pro-britischen Demonstranten in Belfast sei ein Beschluss des Stadtrates, die britische Fahne nur noch an ausgewählten Tagen zu hissen. Anlass für mich, den Unterschieden zwischen Grund und Anlass kurz auf den Grund zu gehen: Dabei handelt es sich um Fragen der Kausalität, also um Annahmen über etwaige Ursache-Wirkung-Beziehungen. Das sprachliche Feld ist auch hier umstritten und in Bewegung, aber klar scheint mir, dass zum Beispiel sozioökonomische Ursache (oder Grund) des Beginns des Zweiten Weltkrieges eine neue Phase des Strebens des Nazi-Regimes nach Eroberungen und Weltmacht war. Als mehr oder weniger zufälliger (oder auch erst geschaffener) Auslöser oder Anlass hingegen diente der angebliche Überfall polnischer Freischärler auf den deutschen Sender Gleiwitz durch maskierte SS-Angehörige – als Vorwand.
Mit aktuellem Blick auf Belfast dürfte der umstrittene Flaggenbeschluss des Stadtparlamentes also viel eher ein Anlass für die Ausschreitungen sein denn ein ursächlicher Grund: Dieser wäre gewiss auch hier weit mehr in (veränderten) sozioökonomischen Verhältnissen zu suchen (allgemeine Krise in Großbritannien, Verlust einstiger Privilegien für den pro-britischen Bevölkerungsteil Nordirlands, Angst vor etwaiger Vereinigung mit Irland etc.). Anlässe finden sich leicht, Gründe schwerer.