Eskalation der Tatarenmeldung?

 

Von Sebastian Köhler

1.) Im Mainstream des deutschen Journalismus zeigen sich während der Ukraine-Krise bemerkenswerte Dynamiken: In vielen Fällen scheint er, was die Eskalations-Forderungen angeht, jenseits von Bevölkerungsmehrheit, auch von Wirtschaftseliten und sogar von der Regierung zu stehen. Diese Forderungen nach „mehr Härte gegen Putin“ sind strukturell wohl am ehesten erklärbar daher, dass von der politischen Grundorientierung sich ja viele Journalisten in Deutschland tendenziell als den Grünen zuneigend verstehen – dabei weit überproportional zum Wahlergebnis mit im Jahre 2005 immerhin 35,5 Prozent aller Journalisten als „Grüne“. (siehe die Weischenberg-Studie von 2005 unter http://www.media-perspektiven.de/uploads/tx_mppublications/07-2006_Weischenberg.pdf, Aufruf am 29.3.2014, 12.13 Uhr – die Grünen waren 2005 fünftstärkste politische Kraft bei der Bundestagswahl mit 8,1 Prozent hinter Union, SPD, FDP und PDS). An dieser deutlichen Überrepräsentanz bündnisgrüner Neigungen in den Reihen der Journalisten dürfte sich bis heute wenig geändert haben. Aktueller Bezug: Zumindest einige aktuelle Spitzenvertreter der Grünen (Katrin Göring-Eckardt, Rebecca Harms, Marie-Luise Beck) versuchten ja 2014 durchaus, sich mit eher eskalierenden Forderungen gegen die russische Politik zu profilieren.

Dem FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher ist, vielleicht auch in diesem Kontext, vor allem ein Gespräch von ZDF-Moderator Claus Kleber mit Siemens-Chef Josef Kaeser aufgefallen (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/echtzeitjournalismus-dr-seltsam-ist-heute-online-12867571.html, Aufruf am 29.3.2014, 12.20 Uhr). In der „Krim-Krise“ (ich spreche eher von Ukraine-Krise, weil der Auslöser kaum auf der Krim lag) sehe man: Der „Echtzeitjournalismus“ sei schneller als die Reaktionszeit für einen Atomangriff. Er setze auf die Semantik der Eskalation und werde dadurch selbst zur Waffe.Der von Schirrmacher und mir geschätzte Karl Kraus schrieb in diesem Sinne einst: „„Was Redaktionen beschlossen haben, vergelten und büßen Nationen.“ Schirrmacher kritisiert am Journalismus á la Kleber, dass die Nutzer nicht erfahren sollten, was Kaeser in Moskau getan habe (das wäre Außenreferenz und damit eine journalistische Grunddimension), sondern vielmehr, was der empörte Moderator darüber denke (Selbstreferenz): „Beharren auf einer normativen Deutung dessen, was die westlichen Sanktionen angeblich bedeuten, verwandelt Journalismus in Politik und das Fernsehstudio in einen Ort, wo der Interviewer plötzlich außenpolitische Bulletins abgibt.“ Schirrmacher gräbt tiefer und narrative Grundstrukturen dieser Art von Eskalation aus: „Die formalen Kriterien dieser fünf Minuten „heute journal“ sind mittlerweile eins zu eins übertragbar auf einen aktuellen Echtzeit-Eskalationsjournalismus, der Lebenssendezeit füllen und Storys erzählen muss.“

Es sei egal, so hatte Karl Kraus als Erster ein Kennzeichen der Massenmedien definiert, ob man eine Operette oder einen Krieg lanciere: „Gemeint war: Die dramaturgischen, auf Kunden oder Klicks zielenden Strukturen von Konflikt, Eskalation, Krise und Katastrophe, mit denen man über die Welt redet, verändern die Welt beim Reden. Die Erzählung vom Kalten Krieg samt Atomwaffen-Angst und biblischer Apokalypse ist das schlechthin unüberbietbare Narrativ – Spannung pur, in der sich der sprachlose Siemens-Chef plötzlich in der Rolle des Spions wiederfindet, der aus der Kälte kam.“

Von Michael Crichton stamme, schreibt Schirrmacher, der Spruch, dass sich eine Geschichte, wenn die Zutaten stimmen, fast von selbst schreibe: „Nicht nach Kriegsgeschrei und dem Donnern von Stiefelabsätzen muss man deshalb heute in der Sprache suchen, sondern nach diesen Automatismen, die durch moderne Kommunikationssysteme sich atemberaubend beschleunigt haben. Es war ein Automatismus, nicht die angebliche moralisch-politische Reflexion, die Claus Klebers Performance erklärt.“ Weil Echtzeit Reflexionskraft minimiere, infiziere sie derzeit auf höchst bedrohliche Art das politische und gesellschaftliche Leben in allen Bereichen. Es sei eine Pointe der Geschichte, dass nun auch die entsprechende soziale Kommunikation in den Lichtgeschwindigkeitsmodus wechsele. Schirrmacher: „Wer Zeitpuffer für Hochgeschwindkeitsbörsen verlangt, sollte nach den jüngsten Erfahrungen auch über solche für Nachrichtenbörsen nachdenken.“ Oder vielleicht Nachrichten nicht nur als Waren oder Machtmittel begreifen müssen, sondern als öffentliche Leistungen, die anderen Kriterien als Gelderwerb, Machtausbau oder Aufmerksamkeit um ihrer selbst willen zu folgen hätten.

Ergänzend zu Schirrmachers Kritik bleibt mein Punkt die fehlende „Äquidistanz“ dieser Art von Journalismus: Die rasant zunehmende Einseitigkeit, mit der eben nicht allen wichtigen Seiten gegenüber (hier ja zumindest zumindest zwei Parteien: mehr Ablehnung versus eher Verständnis für die russische Politik) der gleiche Abstand gewahrt wird. Dieses „Sich-Nicht-Gemein-Machen“ (HaJo Friedrichs) mit einer Sache, und sei sie noch so gut, gilt als eine bewährte Norm aus den Zeiten der Entstehung des modernen Journalismus Mitte des 19. Jahrhunderts. Als es übrigens schon einmal einen Krim-Krieg gab (1853-1856), in dem der erste moderne Kriegsreporter, William Howard Russell, für die Londoner „Times“ mangels anderer Neuigkeiten sich eine bewusst falsche Nachricht ausgedacht haben soll (man staune: eine anti-russische). So entstand eben die „Tatarenmeldung“. Allerdings stürzte schließlich im Kontext dieses Krieges die britische Regierung von Premier Aberdeen. Soviel Zeit muss doch sein – zur Ironie von Geschichte.

2.) By the Putin-Bashing-Way: Wo ist eigentlich Edward Snowden? Klar, als Opfer russischer Propaganda sitzt er irgendwo im „Reich des Bösen“. Das ist oberfies – oder liegt es daran, dass ihn „die Guten“ nicht friedlich aufnehmen wollen?

And now for something completely different, wie es bei Monty Python heißt: Der britische Guardian, eine der angesehensten Qualitätszeitungen der westlichen Welt, stand jüngst kurz vor der Schließung. Nicht durch die heilsame Hand des Marktes und auch nicht durch einen russischen Oligarchen, sondern durch die britische Regierung.  Wie im März 2014  der stellvertretende Chefredakteur Paul Johnson auf einer Konferenz in Dublin erklärte (siehe http://www.heise.de/newsticker/meldung/NSA-Skandal-Britische-Regierung-drohte-Guardian-mit-Schliessung-2156345.html?wt_mc=sm.feed.tw.ho,, Aufruf am 29.3.2014, 13.54 Uhr), wurden der Redaktion nach Beginn der Enthüllungen in Zusammenarbeit mit dem früheren US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden nicht nur auf Geheiß der Regierung Festplatten zerstört, sondern es wurde der Zeitung sogar unverblümt mit der Schließung gedroht. Insgesamt sei die Arbeit mit Snowdens Material über die gewaltige Überwachung die schwierigste in der Geschichte seiner Zeitung gewesen – auch schwerer als die Arbeit an den Dokumenten von Wikileaks. So habe ein Regierungsbeamter dem Chefredakteur Alan Rusbridger gesagt: „Der Premierminister, sein Stellvertreter, der Außenminister, der Innenminister und der Justizminister haben ein Problem mit Ihnen.“

Das ist alles bemerkenswert genug – aber warum erfahren wir dies zwar, aber erst viele Monate später? Weil eben gerade die vielbeschworene Pressefreiheit selbst in einem Land wie Großbritannien auch politisch (von wirtschaftlich zu schweigen) nie eine absolute ist, sondern stets eine sehr relative, abhängig von aktuellen Macht- und sonstigen Einflussverhältnissen? Dann wäre ja die Welt auch in dieser Hinsicht gar nicht in Schwarz und Weiß zu zeichnen (hier Pressefreiheit, dort keine), und vielleicht auch nicht allein in „Gut versus Böse“? Hmm, das dürfte also anstrengend bleiben ….

3.) Sprachkritisch geht es heute auch um einen Aspekt der Ukraine-Krise: Was passiert mit der Krim nach dem Votum der Menschen, die dort leben? „Annexion“, „Besetzung“, „Diebstahl“ (Claus Kleber), „Anschluss“, „Beitritt“, „Eingliederung“, „Angliederung“, „Wiedervereinigung“, „Heimkehr“? Die Bundesregierung hatte den Vergleich des russischen Präsidenten Wladimir Putin zwischen den Ereignissen auf der Krim und der deutschen Vereinigung zurückgewiesen. Die deutsche Einheit habe zwei getrennte Staaten gleicher Nation wieder zusammengeführt, hatte Regierungssprecher Steffen Seibert gesagt. (http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/krim-krise-berlin-weist-putins-vergleich-mit-wiedervereinigung-zurueck-12854046.html, Aufruf am 29.3.2014, 14.09 Uhr). Kann mensch so sehen, aber Journalisten sollten ja, im Unterschied zu Steffen Seibert, das Sprachrohr keiner Regierung sein, weder der von Frau Merkel noch der von Herrn Putin. Daher dürfen wir uns für informationsbetonten Journalismus die Frage stellen, welchem Terminus die meisten Nutzer mit ihren ganz verschiedenen Interessen und Standpunkten am ehesten zustimmen könnten. Also Merkel-Fans und Putin-Fans und Fans des Rechten Sektors und eher Unentschiedene etc. Deshalb ist meine Wahl in der täglichen Meldungsarbeit das Wort, das mir am wenigsten wertend erscheint aus diesem semantischen Feld: „Eingliederung“ (oder auch, wegen des absehbaren Sonderstatus innerhalb der Russischen Föderation: Angliederung). Das kann mensch, je nach Perspektive, schlecht oder gut (oder unentschieden) finden – was sich von „Annexion“ oder „Wiedervereinigung“ kaum sagen lässt. Dafür gibt es ja meinungsbetonte Formen wie Kommentare. Und manchmal leider auch, siehe oben, TV-Interviews mit „Moderatoren“.

BILD als Vorreiter der Aufklärung?

Blog vom 24.10.2012 von Sebastian Köhler:
1.) Das ZDF ist dieser Tage in der Diskussion, mit zwei Beispielen zur Fragwürdigkeit von Objektivität im Journalismus. Einmal mehr von der Themensetzung her, das andere Mal wegen Problemen in der Darstellung: Der DJV-Vorsitzende Michael Konken (siehe http://kress.de/mail/tagesdienst/detail/beitrag/118546-versuchte-csu-einflussnahme-auf-zdf-bericht-djv-findet-vorgehen-skandaloes.html, Aufruf am 24.10.2012, 20:08 Uhr) kritisierte es als skandalös, dass offenbar ein CSU-Sprecher mit einem Anruf beim ZDF verhindern wollte, dass der Sender über den Parteitag der bayerischen SPD überhaupt berichtet. Über den genauen Inhalt des Anrufes gibt es widerstreitende Versionen, aber dass ein solcher stattgefunden hat, scheint unstrittig. Wichtiger, als dass Herr Ude und seine Nominierung doch Beitragsthema im ZDF waren, finde ich, wer da bei wem im Umkreis solcher Fragen prinzipiell zu meinen scheint, anrufen zu können. Das spricht im Grundsatz weder für die CSU noch für das ZDF, wenn wir die Norm der „Staatsferne“ auch nur halbwegs ernst nehmen. Mit einem anderen politischen Beitrag brachte sich das ZDF selbst in die Schlagzeilen, mit jenem im „heute journal“ über das Rede-Duell von Angela Merkel und Peer Steinbrück im Bundestag. Hier avancierte Jürgen Trittin vom Nebendarsteller zur Hauptfigur (vgl. http://kress.de/mail/alle/detail/beitrag/118499-trittin-jubelte-nicht-wegen-steinbrueck-zdf-hat-falsche-bilder-in-bericht-montiert.html, Aufruf am 24.10.2012, 20:17 Uhr). Nach Sequenzen aus den Reden der beiden Kontrahenten hatte es nach Recherchen des „Focus“ im ZDF-Beitrag geheißen: „Wenn Steinbrück Attacke reitet, jubelt die Opposition.“ Zu sehen war Trittin, der erst feixend die rechte Faust schwang und dann einen Knopf seines Hemdes öffnete. Tatsächlich hatte Trittin nicht auf Steinbrück reagiert, sondern auf die Rede von Rainer Brüderle von der FDP. Dieser hatte Trittin attestiert, dass der unter „feinem Zwirn“ doch „immer noch das Mao-Jäckchen“ trage. Das ZDF räumte später eine „ungenaue“ Bildauswahl ein, machte darum aber bei weitem nicht so viel Aufhebens wie um die von der UEFA im Sommer wohl auch etwas „ungenau“ manipulierten Löw-Bildchen vom scheinbaren Balljungen-Foppen live während des Spieles.
2.) BILD als Vorreiter der Aufklärung? Gerade war Verlegerin Friede Springer zur Nach-Feier ihres 70. Geburtstages offiziell zu Gast bei Bundespräsident Joachim Gauck. Und es gab 2012 erstmals den Henri-Nannen-Preis für die beste investigative Leistung im Journalismus für zwei Reporter der BILD – Martin Heidemanns und Nikolaus Harbusch. Wenn auch die Auflage sinkt, bleibt die BILD mit einer täglichen Reichweite von mehr als zwölf Millionen Print-Nutzern und mehr als sechs Millionen Online-Nutzern das massenwirksamste Medium in Deutschland. Aber was ist daran überhaupt „Zeitung“? Was ist daran Journalismus? Den Nannen-Preis in der Rubrik „Investigative Recherche“ gab es nicht für irgendeine Recherche, sondern für einen der auslösenden Artikel („Wirbel um Privatkredit“) im „Fall“ des Christian Wulff. BILD contra Wulff – da lief doch zuvor ganz Anderes? Die beiden Publizisten Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz untersuchten im Auftrag der IG-Metall-nahen „Otto-Brenner-Stiftung“ mehrfach das Phänomen Bild. In der Studie „Drucksache „Bild“ – Eine Marke und ihre Mägde“ (Frankfurt am Main 2011) bestimmen sie ausgehend von Bild-Darstellungen der Griechenland- und Eurokrise vor allem im Jahre 2010, was diese Publikation ausmacht. Laut Arlt und Storz ist BILD ein Hybrid-Medium par excellence: Als massenmediale Publikation bedient sie sich in Inhalt und Darstellung aus ganz verschiedenen „medialen Kommunikationsgattungen“ (Karl Nikolaus Renner), von der PR und Werbung bis hin zu Formen des Journalismus. BILD gilt daher als Prototyp einer massenmedialen Veröffentlichung (ARLT 2011-95f.), der möglichst viele Funktionen der Massenkommunikation erfüllt, und zwar als „das entgrenzte, das transvestive Medium“: Multimedialität in der Gestaltung, crossmediale Themensetzung und -verwendung, Erreichen von potentiell allen im Verbreitungsgebiet, Einsatz werblicher Mittel, Unterhaltsamkeit bis hin zur fiktiven Geschichte, Ausschöpfen der Identifikations- und Motivationsmöglichkeiten der PR-Kampagne, Reklamieren journalistischer Unabhängigkeit wie exemplarisch beim „Fallen-Lassen“ von Wulff, Nutzung ausgefeilten Marketings.
Von den drei Grundfunktionen jeder Kommunikation (Information, Motivation, Unterhaltung) scheint dabei die Unterhaltung jene zu sein, mit der sich Aufmerksamkeit als Maßstab (Medium, Regulativ, knappe Ressource) in der Öffentlichkeit am besten erzielen lässt und damit zugleich „das Geld der Vielen“ (ARLT 2011-57f.). BILD darf als Makler öffentlicher Aufmerksamkeit gelten, da das Blatt vermittelt zwischen der Alltagswelt der Nutzer, dem Show-Business einschließlich Sportes, Teilen des Politik- und Unternehmer-Betriebes sowie großen Bereichen der anderen Medien. Die Forscher sehen BILD als Vorreiter einer neuartigen Auflösung öffentlich-relevanter Kommunikation (Politik, Wirtschaft, Grundrechte) in Richtung Unterhaltung (ARLT 2011-81). Allerdings abstrahiert jener Ansatz zunächst von der ökonomischen Seite des Journalismus als massenmedialer Kommunikationsgattung (ARLT 2011-93f.), um die normative Unabhängigkeit des Journalismus besser extrapolieren zu können. Jedoch gibt es historisch und systematisch gute Gründe, den modernen Journalismus von vornherein durch den Doppelcharakter von Ware und Kulturgut bestimmt zu sehen (so u.a. Marie-Luise Kiefer).
3.) „Berliner Zielfahnder fassen einen Totschläger vom Alex“, so lautete die Hauptüberschrift auf Seite 1 der Märkischen Allgemeinen (MAZ) in Potsdam am 24.10.2012. In der Unterzeile ist von einem „Verdächtigen“ die Rede, und auch der Berichtsvorspann spricht von einem „möglichen Täter“. Aber diese Schlagzeile ist in der Tat schon mehr als ein Urteil – sie darf in dieser tragischen Angelegenheit selbst wiederum als Rufmord gelesen werden. Denn auch zwölf Stunden nach Redaktionsschluss redeten viele seriöse Quellen weiter von einem „Verdächtigen“ oder „Festgenommenen“, aber eben nicht von einem Täter. Im Rechtsstaat sollte auch (und gerade) bei schlimmsten Verbrechen die Unschuldsvermutung gelten, bis ein Gerichtsverfahren den/die Verdächtigen überführt hat. Und die Medien als selbsternannte vierte Gewalt dürften sich nicht auf derart platte Art als „Volkes Stimme“ (die MAZ war zu DDR-Zeiten die „Märkische Volksstimme“) verstehen, dass sie hier auf ihre eigene Weise „kurzen Prozess“ machten.

Alter Wein in neuen Gefäßen?

Blog vom 26.2.2012:

Zur phrasenhaften Konjunktur aktueller PR- oder Propaganda-Floskeln

Von Sebastian Köhler

Man kann die anhaltenden krisenhaften Prozesse in der politischen Ökonomie Europas als Finanzkrise oder weitergehend als Wirtschaftskrise bezeichnen. Meistens werden sie aber als Schulden- oder Staatsschuldenkrise benannt, oder eben als „Griechenkrise“, womit vor allem die Schuldfrage geklärt scheint. Immer wieder tauchen hier im deutschen Journalismus drei Redewendungen auf, die vorgeben, objektivierend zu beschreiben. Aber wir könnten auch anders:
1.) Die Griechen müssten endlich die jeweils neueste Fassung von „Sparprogramm“ um- und durchsetzen (zum Beispiel: „Parlament billigt Sparprogramm“, In: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/europas-schuldenkrise/griechenland-parlament-billigt-sparprogramm-11647542.html, Aufruf am 26.2.2012, 12.00 Uhr). „Sparen“ ist etwas intuitiv Gutes, etwas im Massenbewusstsein positiv Besetztes – Kinder bekommen es gelehrt, sie sollen es für ihr Leben lernen. Der Alltagsgebrauch legt nahe, etwas derzeit eher Nicht-Notwendiges beiseite zu legen, um sich später etwas Größeres, Wichtiges leisten zu können. Bei Wikipedia heißt es genau in diesem Sinne: „Sparen ist das Zurücklegen momentan freier Mittel zur späteren Verwendung. Häufig wird durch wiederholte Rücklage über längere Zeit ein Betrag aufsummiert, der dann für eine größere Anschaffung verwendet werden kann.“ In: http://de.wikipedia.org/wiki/Sparen, Aufruf am 26.2.2012, 12.08 Uhr). Selbst bei nur kurzer Reflexion dessen, was in Griechenland in der Sache passiert (oder passieren soll), wird klar, dass es keineswegs um diese „guten“ Aspekte des Sparens geht. Hier wird sozial umverteilt, und vom „Ersparten“ dürften die „Sparer“ kaum irgendetwas haben. Viel sachlicher ist es, statt dessen von Sozialkürzungs- oder Massensteuer-Erhöhungsprogrammen zu reden. Wenn sich manche Journalisten nicht das Denken und die Distanzierung in alle Richtungen „sparen“ würden.
2.) „Rettungsschirme“ (siehe u.a. im Focus „Euro-Rettungsschirm: Abgeordneter fordert Ende der Griechenland-Hilfen“; In: http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/euro-rettungsschirm-abgeordneter-fordert-ende-der-griechenland-hilfen_aid_717241.html, Aufruf am 26.2.2012, 12.52 Uhr) klingen doppelt gut: „Retten“ ist etwas Großartiges, sehr Menschliches, und „Schirme“ schützen vor vielen Gefahren – Absturz, Regen, Sonnenbrand. Aber warum heißen die Milliarden-Summen, die EU, IWF und Europäische Zentralbank auch aus unser aller Steuergeldern dafür bereitstellen, dass die Gläubiger der griechischen Staatsschulden (z.B. ausländische Banken und Versicherungen) hinreichend bedient werden, nicht einfach und sachlich zum Beispiel „Milliarden-Summen“? Sondern werden – in direkter Übernahme der Pressemitteilungssprache von EU, IWF und EZB – als „Rettungsschirme“ auch journalistisch verkauft ? Rette sich, wer kann, vor solchen schlichten „Copy-and-Paste“-Medien.
3.) Mit den „Rettungsschirmen“ landen wir auch gleich auf der nächsten Samariterbasis, bei den allgegenwärtigen „Hilfspaketen“ (siehe Welt online: „Das Griechen-Hilfspaket birgt etliche Fallstricke“; In: http://www.welt.de/wirtschaft/article13888187/Das-Griechen-Hilfspaket-birgt-etliche-Fallstricke.html, Aufruf vom 26.2.2012, 13.10 Uhr). Die erscheinen ja – sofern hier eine Steigerung möglich ist – fast noch sympathischer als die beiden erwähnten Sprechblasen. Da schwingt ganz vorne „Schenken und Gutes tun“ mit, und genau das ist auch der erste Treffer bei einer Google-Suche nach „Hilfspaket“ (Aufruf am 26.2.2012, 13.23 Uhr: http://www.google.de/#hl=de&sclient=psy-ab&q=hilfspaket&pbx=1&oq=hilfspaket&aq=f&aqi=g4&aql=&gs_sm=3&gs_upl=1012l4756l0l5404l10l7l0l3l3l2l1149l3654l0.2.1.1.0.1.0.2l10l0&bav=on.2,or.r_gc.r_pw.r_qf.,cf.osb&fp=35a09eb17a7bb46f&biw=1467&bih=696). „Helfen“ ist mindestens so fein wie „Sparen“ und „Retten“, und „Pakete“ haben im Deutschen, u.a. als Care-Pakete oder West-Pakete, eine ziemlich tadellose umgangssprachliche Wortgeschichte. Doch warum wird auch hier kaum bloß von Milliardensummen oder auch nüchtern von Stabilisierungsmaßnahmen geredet? Soll bei solchen zusammengesetzten Termini „doppelt gut“ besser halten, weil die entsprechenden „marktkonformen“ (Angela Merkel im September 2011; vgl. http://www.nachdenkseiten.de/?p=10611, Aufruf vom 26.2.2012, 13.47 Uhr) Politiken sowohl der Mehrheit der Griechen als auch nicht gerade kleinen Schichten in Deutschland und anderswo sonst noch schwerer zu vermitteln wären? Ohne die Hilfe von derart bedeutungsschweren, aber eben einseitig belasteten Sprach-Paketen?