Geht`s noch? Um die NSU-Verstrickungen?

Von Sebastian Köhler
1.I) Es schien genau so spannend, aber viel lustiger als bei einer Fußball-Ansetzungsauslosung: Nachdem auch die Fachzeitschrift „Brigitte“ am Montag, 29.4., in München ein großes Los gezogen hatte, brach sich die Skurrilität der Live-TV-Inszenierung in lautem Lachen Bahn. 50 Medien-Plätze für die Endrunde im juristischen Spiel zum NSU-Komplex wurden vergeben, und bei 324 zugelassenen Bewerbungen war klar, dass kaum alle der sogenannten deutschen Qualitätsmedien von Fortuna ein Plätzchen würden zugewiesen bekommen.
Vorab: Wenn es rechtzeitig und ernsthaft gewollt gewesen wäre, hätte sich im schönen München – wo es ja fast alles gibt außer Steuervermeidung – gewiss ein entsprechend großer und sicherer Saal für den Prozess gegen Beate Zschäpe & Co. finden lassen. Aber dass nun, also hinterher, die „Verlierer“ wie FAZ und Zeit und Welt und Taz und Tagesspiegel etc. öffentlich erwägen, gegen das Losverfahren zu klagen, lässt schon wieder auf die nächste quotenträchtige Skandalisierung schielen: Wenn, wäre doch VOR dem Anwerfen der Lostrommel grundsätzlicher und grundgesetzlicher Einspruch sinnvoll gewesen. So präsentieren sich die prominentesten Verlierer als eher schlechte, und prominente Gewinner wie die dpa können sich als „die Guten“ darstellen: Die dpa-Gruppe erklärte, sie stelle einen ihrer Berichterstatterplätze im NSU-Prozess anderen Nachrichtenagenturen zur Verfügung. Sie werde den Platz, welcher der dpa English Services GmbH zugelost worden war, den Agenturen Agence France-Presse (AFP) und Thomson Reuters (ja, für die arbeite auch ich als Journalist) für eine gemeinsame Poolberichterstattung anbieten. Wer aber den Grundkurs „Öffentlichkeitsarbeit“ nicht komplett verschlafen hat, tut nicht bloß Gutes, sondern spricht zuvörderst deutlich darüber. So wie hier Noch-dpa-Leiter Wolfgang Büchner, der ja nun als erster Chef sowohl für Printausgabe als auch für Onlineauftritt zum „Spiegel“ wechselt (http://kress.de/mail/tagesdienst/detail/beitrag/121079-nach-losentscheid-im-nsu-prozess-dpa-bietet-anderen-nachrichtenagenturen-platz-an.html, Aufruf am 1.5. um 14.30 Uhr):
„Wir verzichten damit zwar auf die Möglichkeit, zeitlich parallel auf Deutsch und auf Englisch direkt aus dem Oberlandesgericht München berichten zu können. Wir freuen uns jedoch, wenn die dpa auf diese Weise dazu beitragen kann, dass weitere weltweit tätige Nachrichtenanbieter über diesen wichtigen Prozess aus erster Hand berichten können. Denn die Vielfalt des Nachrichtenangebotes ist auch vielen unserer Kunden wichtig – im globalen Maßstab ebenso wie auf dem deutschen Markt“.
Das klingt angesichts der gerade wieder (siehe dapd-Insolvenz) geschmälerten Vielfalt in der Nachrichten-Agenturlandschaft in Deutschland nicht schlecht. Ich sehe die Vielfalt der Berichterstattung aber viel mehr in einer anderen Richtung gefährdet: Es scheint mir immer mehr um Oberflächlichkeiten des Verhandlungsprozederes zu gehen und tendenziell (noch) weniger um strukturelle Fragen jener Art, wie es möglich gewesen sein soll, dass ein Netzwerk von mehreren anscheinend äußerst gewalttätigen Rechtsextremisten mehr als zehn Jahre in Deutschland komplett unbehelligt von allen möglichen Behörden höchst kriminell tätig war? Solche Fragen und versuchte Antworten darauf wären sicher auch spannend, aber natürlich nicht so lustig und einfach zu haben wie eine TV-Tombola.

2.) Zum sprachkritischen Kaleidoskop: Im RBB-Inforadio sagte Martin Röwer in einem Bericht nach einer Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes mit explizit kritischem Blick auf die derzeitige politische Führung in der Ukraine am 29.4. um 14.55 Uhr: „Es ist sehr zu bezweifeln, ob Julia Timoschenko nun freigelassen wird“. Ich zweifle sehr, dass der Reporter „ob“ und „dass“ sinnvoll einsetzt, also im Sinne sprachlicher Vielfalt unterscheiden kann: Dabei sollte es gar nicht so schwer sein: 1.) Ich weiß, dass Du kommst. Oder auch: Ich weiß, dass Du nicht kommst. 2.) Ich weiß nicht, ob Du kommst. 3.) Es ist sicher, dass Timoschenko in Haft sitzt. 4.) Es ist völlig offen, ob Timoschenko jemals freigelassen wird. Und damit wäre es aus der Sicht des Journalisten eben sehr zweifelhaft (im Sinne von: deutlich weniger als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit dafür), DASS Frau Timoschenko nun freigelassen wird. Ergo: Mit einem dass-Satz wird in der Regel eine Aussage als gegeben dargestellt. Mit einem ob-Satz soll ausgedrückt werden, dass (sic!) es im Sinne einer ca. 50/50-Offenheit fraglich/unsicher/unbekannt ist, ob (sic!) die folgende Aussage (Proposition) als gegeben oder nicht gegeben betrachtet werden soll.