1.) Zum Thema „Medienkritik“, heute etwas ausführlicher und auch subjektiv, fast schon ein „heute journal“ (wenn der Scherz hier gestattet ist):
Am Montag, 26.6., bestimmte ein Report der Bertelsmann-Stiftung zum Thema „Rente“ die Medien hierzulande mit, die Hauptaussage des Reportes lautete: 2035 drohe ca. jedem fünften Rentner in Deutschland Altersarmut. Ich dachte mir an jenem Morgen: Wenn das nun schon die Bertelsmann-Stiftung schreibt, nicht gerade bekannt als eine links-gesellschaftskritische Einrichtung, dann scheint gewissermaßen bereits die „K. am Dampfen“ zu sein. Am Abend war ich allerdings in ganz anderer Hinsicht überrascht, als ich zum Thema auch ein Interview von Claus Kleber mit Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen im „heute journal“ sah.
Hier geht es zum Interview aus der ZDF-Mediathek
Mit etwas Abstand betrachtet, schrieb ich am 29.6. folgende Zeilen an das ZDF (ich kenne und schätze den heutigen Redaktionsleiter des „heute journal“, Dr. Wulf Schmiese, durch viele kritische und selbstkritische Diskussionen mit Studierenden in Berlin seit 2010)
Sehr geehrte Damen und Herren von der ZDF-Zuschauerredaktion, lieber
Herr Schmiese,
seit Montagabend ist etwas Zeit vergangen, weil ich die Causa noch
einmal in Ruhe überdenken wollte.
Aber ich bleibe dabei (und anscheinend geht es nicht wenigen Leuten so):
Ich frage mich, inwiefern Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen mit Blick auf
die aktuelle Rentendiskussion als einziger Experte am Montagabend im
ausführlichen Interview über mehr als vier Minuten lang praktisch
unbedrängt zu Wort kommen konnte. Er ist doch seit vielen Jahren bekannt
dafür (und wird auch kritisiert dafür), dass er nicht zuletzt als
ERGO-Aufsichtsrat und als deutlicher Lobbyist für die INSM oder auch in
anderen Kontexten für die Privatisierung der Rente in Deutschland steht
– und damit für die weitere Schwächung der gesetzlichen Rente
hierzulande. Davon war am Montagabend nicht die Rede, er wurde als
unabhängiger Fachmann und Wissenschaftler präsentiert.
Wenn man sich an die ZDF-Sendung „Die Anstalt“ vom 4.4. 2017 erinnert,
bleibt all das umso weniger verständlich. Denn gerade die Herren
Riester, Rürup, Maschmeyer und eben auch Raffelhüschen scheinen doch
sehr klar für eine bestimmte (und von vielen mittlerweile kritisch
betrachtete) Perspektive in der Rentendebatte zu stehen.
Ich finde das einseitige Auftreten von Raffelhüschen am Montagabend sehr
bedenklich – zumindest hätte m.E. auf diese Aspekte Prof. Raffelhüschens
hingewiesen werden müssen, oder es hätte auch eine andere Sichtweise zu
Wort kommen sollen zum Thema.
Raffelhüschen & Co. beschwören mit Blick auf die gesetzliche Rente seit
vielen Jahren eine angebliche demographische Krise gleichsam als
Naturgesetz, ohne ein Wort zum Beispiel über die steigende Produktivität
unser aller Arbeit zu verlieren.
Ich habe Claus Klebers Twitter-Äußerungen als Reaktion auf offenbar
massive Kritik gelesen und finde diese alles andere als überzeugend:
Natürlich sagt Raffelhüschen nun (wie ähnich ja auch Frau Merkel und
Herr Lindner), man solle bei der gesetzlichen Rente jetzt bis 2030 alles
so laufen lassen, wie es angeschoben wurde – außer unbedingt noch das
Renteneintrittsalter einen nächsten Schritt heraufsetzen! Also in
Richtung weiterer Absenkung des Rentenniveaus. Das alles erscheint mir
sehr deutlich von neoliberaler Ideologie geprägt. Soll offenbar
Versicherungen und Banken in Zeiten niedriger Zinsen weitere
Geschäftsfelder garantieren ….
Summa summarum: Sehr, sehr problematisch das Ganze, aus meiner Sicht.
Ich hoffe, Sie können meine Kritik nachvollziehen, und ich freue mich
auf Ihre Antwort!
Mit besten Grüßen: Sebastian Köhler
Einen Tag später erhielt ich vom ZDF folgende Zeilen per Mail:
Sehr geehrter Herr Köhler,
vielen Dank für Ihre E-Mail an das ZDF.
Die neue Bertelsmann-Studie zur Zukunft der Rente in Deutschland ist am 26. Juni das bestimmende Thema unserer aktuellen Berichterstattung im „heute-journal“ gewesen. Dazu haben wir Prof. Bernd Raffelhüschen, einen profilierten Wirtschaftswissenschaftler, nach seiner Einschätzung der Situation und den Perspektiven für die nächsten Jahrzehnte befragt. Er hat dabei betont, dass das gegenwärtige Rentensystem durchaus tragfähig wie gerecht ist und die Erwartung, dass künftig mehr Menschen mit Rente in Altersarmut geraten werden, seiner Meinung nach sehr gering ist. Um Altersarmut zu verhindern, sei es außerdem sinnvoll, das Rentenalter in absehbarer Zeit maßvoll anzuheben.
Bernd Raffelhüschens Tätigkeit für Versicherungsunternehmen, hier vor allem seine Position als Aufsichtsrat der ERGO, ist uns allerdings bekannt gewesen, stellt aber nicht seine Glaubwürdigkeit in Frage. Er hat in unserem Gespräch tatsächlich ganz anders argumentiert, als es ein Interessenvertreter der Versicherungsbranche getan hätte. Und seine Argumentation ist aus unserer Sicht durchaus schlüssig und verständlich gewesen.
Ihre Kritik an Bernd Raffelhüschens Darstellung, die Ihnen wirklichkeitsfern erscheint, haben wir als Teil der Zuschauerresonanz auf unser Programm festgehalten.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre ZDF-Zuschauerredaktion
Mit wiederum etwas Abstand betrachtet, also jedenfalls nicht im Affekt, schrieb ich am 4.7. dann noch einmal an das ZDF, an Herrn Dr. Schmiese und an Herrn Kleber:
Sehr geehrte Damen und Herren beim ZDF, Dank für Ihre Zeilen. Allerdings kann ich überhaupt nicht verstehen, wie Sie argumentieren: Sie schreiben (wie auch Moderator Claus Kleber twitterte):
> Bernd Raffelhüschens Tätigkeit für Versicherungsunternehmen, hier vor allem seine Position als Aufsichtsrat der ERGO, ist uns allerdings bekannt gewesen, stellt aber nicht seine Glaubwürdigkeit in Frage. Er hat in unserem Gespräch tatsächlich ganz anders argumentiert, als es ein Interessenvertreter der Versicherungsbranche getan hätte. Und seine Argumentation ist aus unserer Sicht durchaus schlüssig und verständlich gewesen.
>
Zwei Punkte meiner Kritik als die wichtigsten an der Stelle:
1.) Das ZDF hätte im Sinne von Transparenz und Einordnung für das Publikum ZUMINDEST deutlich machen müssen, dass Raffelhüschen gerade mit Blick auf dieses Feld „Rente“ eben nicht nur Professor in Freiburg ist, sondern auch in anderer Hinsicht aktiv war und ist.
2.) Wenn Sie mich (und sicher viele andere halbwegs Aufgeklärte hierzulande) fragen: Raffelhüschen hat GENAU SO geredet, wie es von einem Lobbyisten der Privatisierungstendenz mit Blick auf die Rente JETZT zu erwarten ist: Bei der gesetzlichen Rente sei nun im Großen und Ganzen alles in Ordnung, dank der Reformen der Regierungen Schröder und Merkel. Gut wäre es sicher, das Renteneintrittsalter noch weiter heraufzusetzen.
Das heißt im Klartext (und das lesen mittlerweile immer mehr Leute Schritt für Schritt in ihren Rentenauskünften und -bescheiden): Bei einem absehbaren gesetzlichen Rentenniveau von nur noch 43 Prozent des Durchschnittsverdienstes MÜSST IHR EUCH (selbst wenn Ihr Euer ganzes Berufsleben hindurch regelmäßig eingezahlt habt) ZUMINDEST ZUSÄTZLICH PRIVAT RENTENVERSICHERN.
Hatten Sie ernshaft erwartet, jemand wie Raffelhüschen wäre so unprofessionell, nun auf den Zustand der gesetzlichen Rente zu schimpfen? Jetzt, da vieles ja genau so läuft, wie er und seinesgleichen das seit spätestens 1998 fordern?
Sorry, aber solche „Argumente“ kann ich nur schwer ernstnehmen. Ähnlich wie die Plattitüde, dass Rentenkürzungen nötig wären, weil immer weniger Berufstätige immer mehr Rentner mit „durchzufüttern“ hätten. Wo bleibt da der Aspekt unserer wachsenden Arbeitsproduktivität? Sie kennen vielleicht eine vergleichbare „Argumentation“: 1850 hat ein Bauer zwei Menschen ernährt. 1950 hat ein Bauer bereits 40 Menschen ernährt. Heute ernährt ein Bauer 133 Menschen. Was folgt daraus? Natürlich, dass wir bald alle verhungern werden.
Im Ernst: Ich bitte Sie herzlichst darum, uns als Ihr Publikum und als Ihre Beitragszahler ernster zu nehmen! Denn in der Tat befindet sich unsere Gesellschaft wohl in sozialen und auch medialen Umbrüchen.
Ich würde sehr gerne das öffentlich-rechtliche Prinzip auch hier gegen die Privatisierungstendenzen weiter verteidigen – bei aller Kritik. Aber solche Beiträge UND IHRE REAKTIONEN auf Kritik wie meine machen das, gelinde gesagt, nicht gerade leichter!
In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich mit freundlichem Gruß: Sebastian Köhler
Redaktionsleiter Dr. Wulf Schmiese hat mir gerade per Mail geschrieben, dass wir uns nach dem G20-Gipfel dazu noch einmal in Ruhe austauschen sollten. Das würde mich sehr freuen! Bleiben wir gemeinsam dran!
Ich weiß nicht, ob das hier noch gelesen wird … Man mag bezweifeln, dass es passiert.
2.) Noch etwas leichtere Kost aus dem Regal „Kaleidoskop“, also Sprachkritik: Im RBB-Inforadio wurde am 15.11.2016 um 21.12 Uhr in einem Bericht zum Obama-Besuch gesagt: „Viele Griechen bezweifeln allerdings, ob das unter Donald Trump so weitergeht.“ Ich denke, hier sollte es „zweifeln“ heißen, und das Wort „ob“ lässt es in der Waage, inwiefern es weitergeht. „Bezweifeln“, sofern es nicht gleichbedeutend ist mit „zweifeln“, jedoch scheint mir schon stärker, weshalb ich sagen würde: „Viele Griechen bezweifeln allerdings, dass das unter Donald Trump so weitergeht.“ Ein anderes Beispiel, um den Unterschied zu verdeutlichen: „Er weiß nicht, dass Du kommst“ geht von dem Fakt des Kommens aus. „Er weiß nicht, ob Du kommst“ lässt die Wahrscheinlichkeit des Kommens im Ungefähren, vielleicht bei etwa 50 Prozent.