Die ARD-Chefetage hat Vorwürfe zurückgewiesen, eine Berichterstattung über Vergewaltigungs- und Mordvorwürfe gegen einen 17 Jahre alten Flüchtling aus Afghanistan in Freiburg zu unterdrücken (vgl. u.a. http://de.reuters.com/article/deutschland-fl-chtlinge-ard-idDEKBN13U243, Aufruf am 7.12.2016, 9.20 Uhr). Zwar sei der Tod der 19 Jahre alten Studentin im Oktober fürchterlich gewesen, aber der Fall der Festnahme des Verdächtigen Anfang Dezember habe nicht die Tragweite für einen Tagesschau-Bericht, hatte ARD-Aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke via Facebook geschrieben: Es sei so, „dass es sich um einen Einzelfall, einen Kriminalfall gehandelt hat, der aus unserer Sicht eben nicht diese gesellschaftliche, diese nationale oder internationale Relevanz hat.“ Mit seiner Stellungnahme reagierte Gniffke nach eigenen Angaben auf viele Anfragen, in denen Zuschauer wissen wollten, warum die Tagesschau im Unterschied zum ZDF nicht über die neuen Entwicklungen in diesem Fall berichtet habe.
Der Verdächtige war nach Polizeiangaben 2015 unbegleitet aus Afghanistan eingereist und bei einer Familie in Freiburg untergebracht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Vergewaltigung und Mord der 19-jährigen Studentin vor.
Petry beschwert sich
AfD-Chefin Frauke Petry wiederum warf der Tagesschau vor zu behaupten, „es handelt sich um ein regionales Ereignis“. Mit Blick auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sprach sie vom „Verschweigen wichtiger Geschehnisse“ und „Kleinreden“ und nannte neben dem Freiburger Fall die Silvesternacht von Köln, als eine große Zahl von Männern mit Migrationshintergrund Frauen sexuell genötigt haben soll. „Das lässt mich doch alles daran zweifeln – und das sind nur sehr wenige von sehr vielen Beispielen – dass wir tatsächlich eine Informationsfreiheit und eine breitere Berichterstattung erleben“, erklärte Petry.
Gniffke erklärte, die Tagesschau hätte auch nicht berichtet, wenn ein Deutscher ein Flüchtlingsmädchen getötet hätte. Über Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte werde aber informiert, weil sich dahinter ein offenbar breiteres gesellschaftliches Phänomen verberge, nämlich Fremdenfeindlichkeit. Die ARD-Tagesthemen berichteten dann am Montagabend erstmals über den Freiburger Fall (siehe https://www.youtube.com/watch?v=iRdCyx4XlQs; Aufruf am 7.12.2016, 9.45 Uhr). Grund sei aber kein Sinneswandel gewesen, äußerte Gniffke, sondern das breite Echo, das der Fall und seine mediale Behandlung gefunden hätten.
Mediale Wirklichkeiten
Das ist interessant – es geht nicht nur um den Kriminalfall (in Deutschland hat es 2015 offiziell 296 Morde geben, also durchschnittlich etwa fast jeden Tag einen, Tendenz seit dem Jahr 2000 mit damals knapp 500 fallend, vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2229/umfrage/mordopfer-in-deutschland-entwicklung-seit-1987/; Aufruf am 7.12.2016, 9.30 Uhr), sondern beim Umschwenken von ARD-Aktuell um vor allem mediale Reaktionen darauf, die nun laut Moderator Ingo Zamperoni eine „politische Dimension“ des Falles bis hin zur Äußerung der Kanzlerin bedeuten. Auch wenn Nachrichten und Nachrichtenmagazine traditionell nicht gerade als medienkritische Formate bekannt sind, werden also Unterscheidungen von medialer und außermedialer Realität anscheinend schwieriger. Nachrichtenfaktoren wie Negativismus, Frequenz, Schwellenwert, Eliteperson und Personalisierung sind auch daher nicht naiv zu fassen als Wirklichkeitsmerkmale, sondern wesentlich als Beitragsmerkmale. Kai Gniffke meint, „Relevanz“ als hier kaum erfüllter Nachrichtenfaktor habe zunächst über dem „Gesprächswert“ gestanden und damit das Schweigen von ARD-Aktuell bis Montag begründet.
Einer für alle?
„Relevant“ meint hier offenbar „öffentlich-relevant“, im Sinne von Problemen aus Politik, Wirtschaft, Grundrechtsfragen etc., die uns einerseits tendenziell alle und nachhaltig betreffen, die wir andererseits in unserer demokratisch verfassten Gesellschaft aber auch selbst zumindest mit-bestimmen können (sollten). „Gesprächswert“ hieße dann privat-relevant, also alles, worüber sich auch „normale“ Menschen (keine Medienprofis) unterhalten, weil es irgendwie interessant scheint, zum Beispiel Sport, Promi-News oder Wetter. Gniffke wurde von einem Nutzer entgegengehalten, dass es doch fast jeder mittlere Waldbrand in den USA bis in die „Tagesschau“ schaffe, obwohl die Relevanz solcher Ereignisse oder eben Beiträge für die Nutzer jener Sendung gegen Null gehen dürfte.
Aber womöglich war die lange funktionierende Unterscheidung wichtiger „hard news“ von interessanten „soft news“ schon immer eine exklusive, weil (unbewusst und unbefohlen) elitäre Angelegenheit? Das selbstkrisch zu reflektieren heißt nicht, sich von rechtspopulistischen Extremisten (aus) der Mitte wie Trump, Gauland oder Hofer treiben zu lassen. Wir Journalisten und unser Journalismus, vielleicht sogar die Journalismen sollten heterogener werden, um die Gesellschaft und ihre Widersprüche, ja Spaltungen (zumindest besser) „repräsentieren“ zu können.
Fragwürdige Praktiken
Zwei Beispiele dazu aus diesem Anlass: a) Arno Frank schrieb auf Spiegel Online (http://www.spiegel.de/kultur/tv/getoetete-studentin-maria-l-in-freiburg-warum-die-ard-nun-doch-ueber-den-mord-berichtet-a-1124574.html; Aufruf am 7.12.2016, 9.36 Uhr): „Darüber berichteten alle, von „Focus“ bis zum ZDF-„heute-journal““, was natürlich Quatsch ist, selbst wenn, wie er selber einräumt, nur die „Tagesschau“ noch nicht darüber berichtet hätte. Solche sinnlosen All-Aussagen als Über-Vereinfachungen sind Teil der Probleme, die (viele Menschen mit den) Medien haben.
b) Alle drei Umfrage-O-Ton-Geber im Tagesthemen-Beitrag von Daniel Hechler sind offenbar linksliberale Bürger der Stadt. Das kann repräsentativ sein, muss es aber nicht. Sollte man jedenfalls selbstkritisch recherchiert und als Rohmaterial produziert/gesichtet/ausgewählt haben.
Verweihnachtung in der Sprache
2.) Einfach heute hingegen mein sprachkritisches Kaleidoskop: Die PR-Profis vom Berliner Studentenwerk texteten dieser Tage: „Wegen der Durchführung einer innerbetrieblichen Veranstaltung bleiben unsere Mensen ….“ Das liest sich elegant, ja fast schon literarisch und ist jedenfalls so viel ansprechender als „wegen unserer Weihnachtsfeier“ (was ja außerdem auch viel zu kurz gewesen wäre). Eine schöne Absolvierung der Realisierung des dritten Adventes wünsche ich!