Sie ahnen nicht einmal, was sie nicht wissen

Zwölf Tage nach meiner Kritik an den ARD-„Tagesthemen“ zum Thema „100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland“ antwortete der Publikumsservice von ARD-Aktuell. Die KollegInnen aus Hamburg schreiben (versuchend, meine Kritik zusammenzufassen): „Ihrer Meinung nach (fehlt) der Blick auf die DDR-Geschichte.“

Nein, „der Blick“ hatte ich nicht geschrieben, weil es „DEN“ Blick kaum geben kann. Es fehlte überhaupt EIN Blick auf die oder aus der DDR-Geschichte, obwohl es ja um so wichtige Themen wie Schwangerschaftsabbruch und Erwerbstätigkeit von Frauen ging, die in DDR und BRD doch ziemlich verschieden erfahren wurden.

Dann meint man, mich mit politischen Allgemeinplätzen belehren zu müssen, um die es erstens sowohl in den TV-Beiträgen als auch in meiner Kritik gar nicht ging und die ich zweitens längst (und immernoch) weiß: „So waren die politischen Führungsfunktionen in der DDR fast ausschließlich von Männern besetzt. Der Frauenanteil im Zentralkomitee der SED lag unter 15 Prozent, im Politbüro waren so gut wie keine Frauen vertreten und im Ministerrat war es zuletzt nur Margot Honecker.“  Wer hätte das gedacht?

Jetzt aber wird es interessanter, weil es um gewisse Unterschiede zwischen Frauen in BRD und DDR geht (was im Beitrag, wie gesagt, mit keinem Wort vorkam): „Was sich unterschieden hat, war das vom Sozialismus propagierte Frauenbild von der in der Bundesrepublik vorherrschenden Rollenverteilung.“

Das lässt tief blicken. Es standen sich also gegenüber „Sozialismus“ und „Bundesrepublik“. Und „Propaganda“ machen natürlich immer die anderen – geschenkt. Aber inwieweit es neben der Propaganda in der DDR eine von jener in der BRD verschiedene und in mancher Hinsicht deutlich fortschrittlichere  Rollenverteilung gab (die Beispiele in den TV-Beiträgen waren ja gerade Schwangerschaftsabbruch oder Erwerbsbeteiligung) –  das gerät beim hier offenbar vorherrschenden „Framing“ (den impliziten Wahrnehmungs- und Interpretationsrahmen) gar nicht erst in den Blick, geschweige denn in den Diskurs. Man könnte sagen – sie wissen es nicht nur nicht, sie können anscheinend auch gar nicht ahnen, dass sie es nicht wissen.

Immerhin scheint man sich in der eigenen Filterblase nicht komplett abschotten zu wollen: „Gleichwohl gab es – und da haben Sie Recht- Unterschiede zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Im Rückblick betrachtet wäre es sicher wünschenswert gewesen, wir hätten diesen Aspekt im Beitrag über die drei Frauengenerationen unterbringen können. Wir halten aber dennoch den Gesamtblock zu „100 Jahre Frauenwahlrecht“ für journalistisch absolut vertretbar. Es ging, wie bereits gesagt, vor allem um die Frage der politischen Gleichberechtigung.“

Was für ein seltsam enges und selektives Verständnis des Politischen! Aber „absolut vertretbar“ – das bringt die relativ ausgeprägte Unfähigkeit zu Perspektiv-Wechsel und Selbstkritik fast schon „absolut“ auf den Punkt.

Was lässt sich daher von solchen leer wirkenden Floskeln halten? „Haben Sie vielen Dank für Ihre kritischen Anmerkungen. Grundsätzlich ist es richtig, dass wir uns bei der Planung und Gestaltung unserer Sendungen immer wieder vor Augen führen müssen, dass die Menschen in Deutschland mehr als vier Jahrzehnte in verschiedenen Ländern und Gesellschaften gelebt haben.“ Die Botschaft hör`ich wohl, allein mir fehlt der Glaube angesichts der Zeilen zuvor.

Aber trotz aller Ernüchterung über die anscheinend weiterhin stark ausgeprägte Kritik-Resistenz bei ARD-aktuell (zumindest bei Kritik von „links“) werde ich dem Publikumsservice natürlich gerne eine Bitte erfüllen: Als „kritischer Begleiter (ihrer) Nachrichtenangebote erhalten“ bleiben.


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