#MehrAlsTausendWorte

Das offizielle Zeichen für Ironie im Internet ist vielleicht endlich gefunden: Der Hashtag ist dazu in der Lage, unsere Online-Kommunikation um zahlreiche Nuancen zu erweitern – und ermöglicht sogar so etwas wie Poesie in nur 140 Zeichen.

von Kevin Huber

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Jeder HMKW-Erstie weiß: Etwa 80% unserer Kommunikation wird nicht über den Inhalt vermittelt, sondern über Gestik, Mimik, Tonfall und all die anderen Dinge, die wir nicht verbal auszudrücken vermögen. Wer sich regelmäßig mit wie auch immer gearteten Chat-Funktionen beschäftigt, wird nur allzu gut wissen, dass es häufig zu Problemen führt, wenn diese 80% den Umständen entsprechend mehr oder weniger ersatzlos wegfallen. Missverständnisse häufen sich zu undurchdringlichen Dickichten, Beziehungen werden vernichtet, weil die Smileys vergessen wurden und wir verbringen nächtelang schlaflos, weil wir grübeln, ob der süße Typ am anderen Ende des WhatsApp-Chats auf seine zurückhaltende Art mit uns flirtet oder einfach nur höflich ist. Während sich unsere Kommunikation mehr und mehr Richtung Text verlagert – wir ziehen SMS, Facebook-Nachrichten oder sonstige Messaging-Anwendungen dem guten alten Anruf vor, die Kommunikation im Büro findet weitgehend über Email statt – hadern wir noch immer damit, unsere geschriebene Sprache so anzupassen und auszudehnen, damit sie den vielen verschiedenen Schichten und Nuancen unserer Ausdrucksmöglichkeiten gerecht wird. Wir sind vielleicht mit Smileys, Sonderzeichen und LOLs bewaffnet, aber besonders feinfühlig lässt sich auch damit nicht kommunizieren, insbesondere nicht in diesen geschwätzigen und schnippischen Zeiten, in denen häufig schwer zu unterscheiden ist, was ernst und was sarkastisch gemeint ist. Über eine halbe Millionen Facebook-Nutzer (+ Dunkelziffer) sehnt sich daher verzweifelt nach der Sarkasmus-Schriftart, die alles so viel einfacher machen könnte – und sie sind sich nicht darüber bewusst, dass ein anderes soziales Netzwerk bereits vor Jahren etwas erfunden hat, was der Erlösung schon relativ nahe kommt: Der Hashtag, geboren von Twitter. Mit seinen sich ständig im Wandel befindenden Eigenschaften, die es ermöglichen, zahllose Bedeutungsebenen in sehr verknappter Form übereinander zu schichten, ist der Hashtag womöglich dazu in der Lage, unsere Online-Kommunikation um ein vielfaches facettenreicher zu gestalten.

Von der Suchfunktion zum Marketingtool

Die Anfänge des Hashtags sind denkbar einfach: Um etwas mehr Ordnung in den Nachrichtenwust von Twitter zu bringen, führten die Schöpfer des sozialen Netzwerks nach einem entsprechenden Vorschlag des Users Chris Messina im Jahre 2009 ein, dass sich Begriffe mit dem voranstellen der einst für Telefonnummern verwendeten, aber inzwischen traurig in Vergessenheit geratenen Raute verschlagworten lassen, sodass User Tweets zu bestimmten Themen finden können. Die erstmalige Verwendung eines Hashtags gleicht letztendlich der Eröffnung eines Threads in einem Online-Forum. Wer einen solchen eröffnet, hält das jeweilige Thema für relevant und diskussionswürdig und das traf auch auf die Themen zu, mit denen der Hashtag letztendlich zu Ruhm und Ehre gelangte: Über Schlagwörter wie #arabspring oder #occupy nutzten die entsprechenden politischen Bewegungen den Hashtag ausgiebig für ihre Kommunikation und Außenstehende konnten diese politischen Großereignisse quasi in Echtzeit über die Twitter-Kanäle verfolgen. Damit wurden die Event-basierten Potenziale von Twitter etabliert. Fortan fanden sich auch User unter Hashtags wie #superbowl, #breakingbad oder #election2012 auf Twitter zusammen, um ihre Kommentare zu den entsprechenden Ereignissen oder Sendungen abzugeben.2
Marketingabteilungen begannen bald den Braten zu riechen und wollten ebenfalls die Möglichkeit nutzen, ihre Botschaften in Windeseile zu verbreiten und mit meist keinerlei finanziellem Aufwand als globale Gesprächsthemen zu etablieren. Doch der Hashtag erwies sich als wunderbar unberechenbares Marketingtool, mit dem sich Unternehmen bitterböse Imageschäden selbst zufügen können, wenn sie nicht die Sprache des Internets – den Sarkasmus, das Spielerische, die Selbstironie, den flapsigen Insider-Humor – beherrschen und den guten Willen der Twitterer gewinnen können. Die mögen es nämlich nicht, wenn ihnen offensichtlich etwas angedreht oder wenn sie als Werbemittel missbraucht werden sollen, insbesondere nicht bei Großkonzernen, die sie für fragwürdig erachten. In den schlimmsten Fällen nutzen sie die von den Unternehmen bereitgestellten Hashtag-Plattformen, um die Marketingbemühungen mit Sarkasmus ins Gegenteil zu kehren und als herabwürdigende Punchline gegen die entsprechende Firma zu etablieren. So generierte der von McDonalds ins Leben gerufene Tag #McDStories freilich keine herzerwärmenden Geschichten in Fast Food-Filialen, unter dem von Nestle verwendeten Tag #DeineFreiheit nahmen sich die User die Freiheit, ein Schlaglicht auf die von dem Unternehmen veursachten Missstände zu werfen und die biedere britische Sängerin Susan Boyle lud dank fataler Hashtag-Wahl ungewollt zur Anal-Orgie.3

Die Macht der Ironie

Ungescholten aus einer Hashtag-Kampagne herauszukommen, ist schwierig. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Kampagnen entweder mit Spott und Hohn übergossen werden oder einfach unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Im vergangenen Jahr gingen Film- und Musikindustrie dazu über, schamlos Hashtags in die Titel der jeweiligen Werke einzubinden: #holdyourbreath kreischte ein trashiger Horrorfilm und will.i.am, Justin Bieber, Mariah Carey oder Jennifer Lopez gedachten mit Titeln wie #thatPower, #Beautiful oder #LiveItUp einen Sommerhit in die Welt zu setzen. Nichts davon wurde sonderlich erfolgreich, was möglicherweise auch mit der Qualität der vorliegenden Werke zusammenhängt, doch die Hashtags waren keine große Hilfe: Man hätte die Werke auch einfach #pleasetweetme nennen können, so sehr schreien sie witzlos um Aufmerksamkeit, ohne dem Internet tatsächlich gute Gründe zu geben, ihnen Beachtung zu schenken (mal abgesehen davon, eignen sich Titel wie #Beautiful oder #LiveItUp ohnehin nicht als Hashtag, da viel zu allgemein gehalten). Einer der Songs, die sich tatsächlich zum Sommerhit mauserten, ging das Thema Hashtag sogleich auf einer witzelnden Metaebene an und kommentierte schlitzohrig den um sich greifenden Hashtag-Wahn: Robin Thickes „Blurred Lines“. Im viel diskutierten (und aus genderpolitischer Sicht durchaus kritisch zu betrachtenden) Video blinkt immer wieder ein sich über den gesamten Bildschirm erstreckendes #THICKE auf und versperrt teilweise den Blick auf die barbusigen Damen. Das Video weiß, dass der Hashtag absurd ist und es weiß, dass der Zuschauer den Hashtag absurd findet. Aber vielleicht hat er ja trotzdem Lust, etwas über Robin Thicke zu tweeten.  (Und an alle wuschigen Jungs, die nach einem Grund gesucht haben, sich das „Blurred Lines“-Video4 zum 176. mal anzuschauen: #gerngeschehen)5 6

http://vimeo.com/73327480

„Blurred Lines“ trifft den Ton des Internets somit sehr viel gekonnter als die meisten anderen Hashtag-Kampagnen. Viele der beliebtesten Hashtags, die über die Jahre entstanden sind, funktionieren nach dem gleichen Prinzip, tätigen eine klare Aussage und bauen gleichzeitig eine gewisse ironische Distanz zu sich selbst auf. Ein Paradebeispiel für diese Praktik ist #firstworldproblems:



An sich fallen all diese Aussagen in die „Too much information“-Kategorie, die von vielen Nutzern von sozialen Netzwerken immer wieder angeprangert wird. Sie sind nichtssagend und uninteressant und auf einer Ebene mit den nervigen Zeitgenossen, die jede ihrer Mahlzeiten für ihre Mitmenschen dokumentieren. Durch das angehängte #firstworldproblems erhalten die Tweets jedoch einen ironischen Dreh. Die User enthüllen damit, dass sie wissen wie uninteressant ihre Probleme und wie beliebig und sinnlos ihre Tweets sind – sie nehmen sich das Recht, sich trotzdem zu beschweren und sich gleichzeitig ein bisschen über sich selbst lustig zu machen. Der Hashtag gibt letztendlich mehr preis – ihre Selbstwahrnehmung, ihren Sinn für Humor – als der eigentliche Tweet. Er fungiert als Metakommentar, so ähnlich wie Smileys oder „Scare Quotes“ – Anführungszeichen, die wir einbauen, um zu implizieren, dass wir persönlich das jeweilige Wort nicht in diesem Kontext benutzen würden oder dass es eigentlich etwas anderes bedeutet -, aber er erlaubt mehr Nuance und Charakter und die knackige, beiläufige Natur des Hashtags wirkt sehr viel schlagfertiger, geistreicher, launiger als es ein mürrisch-rechtfertigendes „Ich weiß, dass das first world problems sind“ wäre.7 8

Mikro-Poesie auch abseits von Twitter

Die smartesten unter den Twitterern schöpfen die Metaebenen-Potenziale von Twitter voll aus, sodass sie beinahe die Qualität – wenn schon nicht die Anmut – von Poesie erreichen. Wie großen Dichtern gelingt es ihnen, viele Deutungen, Informationen und Assoziationen in einer sehr begrenzten Anzahl an Worten unterzubringen. Nehmen wir diesen hier von Lena Dunham, Schöpferin der HBO-Serie „Girls“:

In diesem Fall pfeift der Hashtag auf den ursprünglichen Sinn der Funktion. Der Tag ist viel zu lang und unhandlich, als dass er von irgendjemandem noch einmal wiederverwendet werden würde und funktioniert damit fast schon als Kommentar über die Natur von Hashtags. Der Tweet selbst stellt eine umfassende, existenzielle Frage und liest sich wie ein Schrei nach Hilfe, doch er wirkt anonym und ohne speziellen Charakter, als könnte er von jedem kommen. Was macht der angehängte Zeichensalat daraus? 1.) Er lässt durch ein leichtes ironisches Zwinkern die Düsternis der Ausgangsfrage weichen, 2.) Er schiebt den Tweet in eine gefühligere, nahbarere Richtung und fügt Wärme und Persönlichkeit hinzu, 3.) Er enthüllt, dass die Autorin sehr wahrscheinlich jung ist und somit möglicherweise ein Generationen-immanentes Gefühl der Orientierungslosigkeit porträtiert, 4.) Er macht sich wiederum durch den leicht ironischen Anklang ein klein wenig über dieses Gefühl der Orientierungslosigkeit lustig und schiebt es in die Kategorie #firstworldproblems und 5.) er klärt das Verhältnis der Autorin zu ihrer Mutter, die als weise und fast allwissend wahrgenommen wird. So entsteht in nur wenigen Zeichen ein komplexes Gefühlskaleidoskop und als Bonus animiert der Hashtag die Leser dazu, darüber nachzudenken, welche Fragen ihre Mütter wiederum nicht beantworten können. 9 10
Diese Form der mit vielen Bedeutungen aufgeladenen Hashtag-Kommunikation beginnt inzwischen sich von Twitter zu lösen und auf unsere anderen Online-Kanäle über zuspringen. Die Journalistin Katy Waldman erzählt in einem Artikel für das Slate-Magazin über ihre Recherchen zum Thema und ihre Kommunikation mit der Linguistikprofessorin Deborah Tannen. Sie schrieb ihr in einer Email: „If you have a moment to talk earlier will you please let me know? (#deadlines. Sorry.)“. Den Hashtag #deadlines fügte sie ein, um aus der Forderung nach einem früheren Gesprächstermin mit ein wenig distanzierendem Humor Druck herauszunehmen. Professor Tannen erkannte allerdings noch eine andere Ebene: Waldman zielte mit dem Hashtag darauf ab, das gemeinsame Wissen bezüglich Deadlines in Erinnerung zu rufen, auf diese Weise Empathie für ihre Situation zu wecken und Professor Tannen dazu einzuladen, sich gemeinsam über dieses leidige Thema zu ereifern – all das in nur 10 Zeichen. 11
Der Hashtag hat tatsächlich nur fünf Jahre gebraucht, um so weit zu kommen. Er startete als simple Suchfunktion, verwandelte sich in ein Versammlungswerkzeug, versuchte sich als Marketingplattform, fand schließlich seine Bestimmung als knackiges Mittel zur ironischen Meta-Kommentierung, das sich gar von der ursprünglichen Suchaufgabe gänzlich abkoppeln lässt und verlässt nun das heimische Nest Twitter, um uns das Leben auch in anderen Kommunikationskanälen zu erleichtern. Und während man sich noch darüber streitet, ob er unsere Sprache nun ruiniert oder sie sich lediglich auf gesunde Weise weiterentwickelt, muss er lediglich das Stigma abschütteln, dass nur unreflektierte, trendversessene Hipster jemals einen Hashtag außerhalb von Twitter, Tumblr und Instagram benutzen würden, um als faszinierendes Kommunikationsmittel von der Allgemeinheit aufgenommen zu werden. Vielleicht rettet er in ein paar Jahren tatsächlich Beziehungen vor den vernichtenden Folgen missverständlicher Online-Kommunikation, uns leuchtet plötzlich ein, was der süße Typ im WhatsApp-Chat eigentlich von uns will und alle verstehen endlich, dass Angela Merkel zum Geburtstag kein neues Handy von Obama bekommt. Oder wir enden alle als Pointe eines Jimmy Fallon-Sketchs12:

  1. Bildquelle: Flickr-Foto von Michael Coghlan unter CCby  
  2. Quelle: Hashtags  
  3. Quelle: Techland  
  4. Videoquelle: Vimeo, Zugriff: 19.07.2014, 16:47h  
  5. Quelle: Vulture  
  6. Quelle: Pitchfork  
  7. Quelle: Visual Thesaurus  
  8. Quelle: Slate  
  9. Quelle: New York Times  
  10. Quelle: Flavorwire  
  11. Quelle: Slate  
  12. Videoquelle: YouTube, Zugriff: 19.07.2014, 16:50h  

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