Philip Placek

25/06/2014

Stell‘ Dir vor, es ist Karneval, und alle gehen hin

Der Karneval der Kulturen lädt jedes Jahr zum Feiern, Tanzen und Mitsingen ein. Die Berliner genießen die Auftritte der diversen Gruppen und lassen die Hitze über sich ergehen. Im Notfall geht man einfach nach Hause oder holt sich eben noch ein kaltes Bier. Ich durfte dieses Jahr auf einem der Wagen beim Umzug spielen, schwitzen und den Karneval aus Sicht eines Künstlers erleben. 

Meine Arme fühlen sich schwer an. Ich merke, wie der Schweiß tropfenweise meinen Rücken entlang, vorbei an den Tragegurten meiner schwarzen Gitarrentasche, bis zu meiner langen Jeans herunter läuft. „Keine kurzen Hosen auf der Bühne“ – darauf haben wir uns vor einem Jahr bei der Gründung der Band geeinigt. Jetzt laufen wir an dem dritten Tag des Karnevals der Kulturen auf dem Hermannplatz entlang zu unserem vierten Auftritt an diesem Wochenende und ich wünsche mir nichts sehnlicher als etwas kaltes zu trinken, Schatten und eine kurze Hose.

Ankunft am Wagen 74

Die Sonne ist erbarmungslos an diesem Tag. Keine einzige Wolke ist zu sehen und die schwarze Plastikbrille, die ich mir am Tag zuvor für 5 Euro beim Späti geholt habe, bietet kaum Schutz. Das helle Blau des Himmels brennt sich so tief in meine Augen, dass ich beim Blinzeln kaleidoskop-ähnliche Muster sehe. Es ist 10 Uhr und wir sind auf dem Weg zu unserem Wagen, auf dem wir beim Umzug des Karnevals spielen werden. Mit unseren Freunden von „Zargenbruch“ haben wir eine Menge Equipment zu schleppen. Boxen, Instrumente und vor allem Wasser müssen wir vom Hermannplatz bis knapp vor die Blücherwiese tragen, weil an diesem Tag die Straßen komplett gesperrt sind und wir nicht mit dem Auto durchgekommen sind. Ich trage meine Gitarre, den silbernen Merchkoffer, meine Effektgeräte und einen Träger mit sechs Flaschen Wasser. Wir müssen öfters anhalten, weil der alte Bollerwagen, auf dem wir die Boxen gestapelt haben, bei jedem Bordstein laut knarrt. Bei jedem Knarren tauschen wir besorgte Blicke aus. „Das wird schon gut gehen.“, denke ich mir und schaue mich beim Laufen um. Die Menschen sind an diesem Tag besonders gut gelaunt. Die Polizei stellt weitere Straßenabsperrungen auf. Die Karnevalshelfer in ihren orangenen T-Shirts sprechen in ihre schwarzen Walkie-Talkies während sie belustigt unseren Bollerwagen anschauen. Nach einer guten halben Stunde kommen wir am Umzugswagen an. Es ist ein roter VW-Transporter mit einer Ladefläche. Auf dem Fahrerdach sitzt eine große, rostbraune Plüschfigur mit blauem Gesicht. Das wird für heute unsere Bühne sein. Das Auto zieht einen Anhänger, der aussieht wie ein kleines Schiff. Er hat einen Mast in der Mitte mit einem eisernen Korb, in den man normalerweise hineinklettern könnte. Heute würde jedoch jeder, der das Eisen auch nur anfasst, direkt karierte Verbrennungen auf der Haut bekommen. Vorne und hinten auf dem Anhänger sind jeweils zwei kleine, braune Holzhütten, in die wir vorerst all unser Gepäck verstauen. An den Seiten des gesamten Umzugswagens hängt jeweils ein großes Banner mit der Aufschrift „Kulturinsel Einsiedel“.

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Der Wagen 74 der Kulturinsel Einsiedel Foto: Ringo Schubert 

Die Gesandten der Kulturinsel 

Wir werden von zwei sonnengegerbten, großen Männern und zwei vor Freude strahlenden Frauen begrüßt. Die jüngere, mit blondem Haar heißt Ulli und umarmt zur Begrüßung jeden von uns. Sie berichtet uns, dass wir gleich die gesamte Technik auf den Transporter aufbauen können, wenn die Arbeiter fertig mit dem Zusammenschrauben der restlichen Holzlatten sind. Ich nutze die Zeit und begrüße jeden unserer freiwilligen Helfer mit einer schweißdurchtränkten Umarmung. Einer von ihnen zieht sich sein Kostüm an. Es ist aus einem grünen, durchsichtigen Stoff gemacht und bedeckt den gesamten Körper. Es fällt wie ein langes Kleid und geht sogar über die Füße. Auf Augenhöhe sind kleine Schlitze, durch die er hindurchschauen kann. Am Mund ist ein Loch zum atmen. Auf der Nase trägt er eine passende, grüne Sonnenbrille mit dunklen Gläsern. Auf dem Kopf bildet ein großer Zipfelhut aus Papier das Ende des Kostüms. Von nun an ist er der grüne Berggeist. Ich ermutige ihn und bedanke mich nochmals für seinen Einsatz, da ich mir vorstellen kann, was für eine Hitze er im Anschluss über sich ergehen lässt.

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Der „Berggeist“ Foto: Ringo Schubert

Die Arbeiter sind mit dem Verschrauben fertig. Wir richten die Technik ein und versuchen die Boxen, Mischpulte, Mikrophone und Instrumente möglichst platzsparend auf der Ladefläche zu verteilen. Zuerst richten sich „Zargenbruch“ ein, da sie mit vier Musikern mehr zum Einstellen haben als wir. Während ich ihnen zuschaue bewegt sich auf der anderen Straßenseite der Zug in Bewegung. Wir haben nicht mehr viel Zeit und einen Soundcheck müssen wir auch noch machen. Von Zeit zu Zeit halten Passanten an und wollen Fotos von uns mit dem Anhänger machen. Ich werde von einem Mann mit dickem, grauen Schnauzbart gefragt, ob ich mit seinem kleinen, hibbeligen Sohn und seiner jüngeren Frau für ein Foto posieren möchte. Ich willige ein und freue mich über die Aufmerksamkeit. Nach einem kurzen Gespräch und dem Verkauf einer CD versprechen sie beim Gehen auf dem Umzug besonders auf uns zu achten. Ich hefte dem kleinen Jungen einen unserer Buttons an seine rote Mütze. Er bedankt sich mit einem leisen „Danke“ und läuft seinen Eltern hinterher.

Die Ruhe vor dem Audiosturm

Lari, mein Bandkollege, ruft mich und sagt mir, dass ich mich auf dem Wagen einrichten soll, da der Wagen demnächst losfährt. Ich hole meine Gitarre und meinen Rucksack aus der vorderen Hütte des Anhängers. Beim Hochklettern auf den Wagen verbrenne ich mich am heißen Metall der Anhängerkupplung. Unser Cajonist Till sitzt bereits auf seinem Instrument und strahlt mich an. „Das wird geil sag ich Dir!“ ruft er mir zu und klopft mit den Händen erwartungsvoll auf der Cajon herum. Ich richte mich ein und stimme die Gitarre. Zu dritt stehen wir nun auf der Ladefläche und versuchen den Sound einzurichten, während sich unser Wagen in Bewegung versetzt und mich für einen kurzen Augenblick aus dem Gleichgewicht bringt. Peinlich berührt schaue ich in die Menge auf dem Bürgersteig. Ich sehe hunderte von glänzenden Gesichtern, die in meine Richtung gedreht sind. Manche Menschen unterhalten sich, andere warten darauf, dass wir endlich anfangen zu spielen.  Ein Jugendlicher kommt an den Wagen und fragt, wer wir sind. Ich verweise ihn auf die Plakate, die auf seiner Augenhöhe hängen. „Unsere Helfer verteilen Flyer. Da steht auch unsere Homepage drauf.“, rufe ich ihm zu, während der erste Helfer ihm schon einen Zettel reicht. Ich schaue wieder in die Menge. Mir wird plötzlich klar, wie viele Menschen das doch sind. Das leichte Kribbeln in meinem Bauch verrät mir, dass ich aufgeregt bin und ich suche die Blicke meiner Bandkollegen. „Los geht’s Freunde!“, schreit mir Lari zu und stimmt den ersten Song an. Wir biegen gerade um die Ecke in Richtung Hermannplatz, als wir den ersten Song des Tages spielen und plötzlich ist die Aufregung weg. Mit jeder gespielten Note, mit jedem strahlenden Gesicht aus dem Publikum und jedem Jubelruf verschwinden die Zweifel. Ab jetzt verspüre ich nur noch eine elektrische Ekstase, die sich durch meinen gesamten Körper zieht.

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Der Blick von der Tragfläche Foto: Ringo Schubert 

Ich nehme meine Sonnenbrille ab, weil sie mir durch den Schweiß dauernd von der Nasenspitze rutscht. Eine Gruppe von Mädchen in Sommerkleidern pfeift mir zu und wirft mir Küsse zu. Das breite Grinsen kann ich nicht unterdrücken und winke ihnen mit meinem rechten Arm zu. Dabei bemerke ich, dass sich an meinem Ellenbogen Schweißtropfen bilden und auf den schwarzen Lack meiner Gitarre fallen. Von da an passiert alles automatisch. Wir spielen unsere Set und wechseln uns mit Zargenbruch ab. Wenn ich nicht spiele, verteile ich Flyer, werde beim Vorbeigehen von Leuten umarmt oder unterhalte mich mit Zuhörern. Unser Wagen fährt an der Hasenheide vorbei und erreicht den Südstern. Dort angekommen sehe ich eine große Tribüne mit einem Timer. Jeder Wagen hat 3 Minuten Zeit eine Performance abzuliefern. Die Jury urteilt dann über die Leistung. ALEX TV ist vor Ort und überträgt den gesamten Umzug per Live-Übertragung.

ALEX TV – KDK Teaser

Nach dem Südstern sind wir wieder an der Reihe. Ich springe schnell auf den Wagen und drehe meine Gitarre auf. Ohne große Verzögerung fangen wir an unsere letzte Set zu spielen, da wir wissen, dass die Bewertung die letzte Etappe des Umzugs bildet. Kurz vor der letzten Kreuzung schaue ich dem Sonnenuntergang entgegen und blicke in die Gesichter der Menschen, die schon den ganzen Tag am feiern sind. Meine Finger tun weh und ich bin sehr erschöpft. Ich rieche mich und meine Bandkollegen. Die anfängliche Energie in ihren Gesichtszügen weicht der Realität. Gleich ist der Umzug vorbei und somit auch der Karneval für uns. In der ferne sehe ich die ersten geparkten Umzugswägen. Ein letztes mal rufen wir unsere Konzentration hervor und spielen das Abschlusslied. Die Menschen am Straßenrand und auf dem Grünstreifen winken uns zu und tanzen. Wir springen von der Tragfläche und umarmen uns. Ein Helfer reicht mir ein kaltes Bier und ich setze mich auf den Boden. Meine Arme fühlen sich schwer an und ich schwitze unter der Jeans. Aber eine kurze Hose werde ich auf der Bühne nie tragen, denn darauf hatten wir uns vor einem Jahr geeinigt.


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