Inszenierungen und Fakes im Flüchtlingsstrom?

Von Sebastian Köhler

Seit einigen Tagen sind sie Thema in vielen Metropolen-Medien: Tausende Flüchtlinge sind auch im Herbst 2013 unterwegs von Afrika über das Mittelmeer in Richtung EU-Europa. Vor allem die Nachrichtenfaktoren „Negativismus“ und „Intensität“ ließen das Elend der Flüchtlinge angesichts – nach offiziellen Angaben – Hunderter Toter vor den Küsten Lampedusas und Maltas ins Rampenlicht rücken. Aber auf den umkämpfen Märkten medialer Aufmerksamkeit reichen die Agenturberichte offenbar nicht aus – es sollen anscheinend, vor allem im Fernsehen, Geschichten erzählt werden, die in ihrer Über-Vereinfachung, Über-Personalisierung und Über-Emotionalisierung als „narrativistisch“ zu kritisieren wären (siehe dazu ausführlich mein Buch „Die Nachrichtenerzähler“ von 2009). Das dürften sie selbst sein, wenn sie „wahr“ wären. Jedoch: die Grenzen zwischen Dokumentation, Inszenierung und Fake wirken weniger dicht als die südlichen EU-Außengrenzen: Wie das verdienstvolle NDR-Format Zapp (TV und Online) berichtet (siehe http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/film_fernsehen_radio/fluechtlinge513.html, Aufruf am 17.10.2013, 15.09 Uhr), sollen drei junge Afrikaner von einer französischen Fernsehproduktionsfirma zur Flucht von Libyen nach Paris angestiftet worden sein – mit Geld und Versprechungen. Diese drei Männer aus Kamerun sollen von zwei Mitarbeitern der französischen TV-Produktionsfirma „Tony Comiti Productions“ in Libyen angesprochen worden sein, die für eine Fernsehreportage eine Flucht aus Afrika mit der Kamera begleiten wollten. Die Journalisten dürften den jungen Männern dann offenbar Geld für die Fahrt gegeben haben – für die Reise durch Libyen, dann übers Meer nach Italien und schließlich bis nach Paris. Diese spektakuläre Flucht wurde erklärtermaßen für die Investigativ-Sendung „Zone interdite“ des französischen privat-rechtlichen Senders M6 in Etappen gefilmt – als dokumentarische Fernsehreportage. Wurden die jungen Männer so geködert und zur Flucht angestiftet – als Hauptdarsteller in einer Fernsehreportage? Und wurden damit, wenn die Umstände der Flucht so oder ähnlich waren, nicht auch die Grenzen zum Fake überschritten? Faken kann pragmatisch näher bestimmt werden (im Unterschied zum für TV- oder Radio-Aufnahmen oft unumgänglichen Inszenieren – „Ist die Technik startklar, können wir beginnen?“) als Hervorrufen von Ereignissen durch mediale Akteure, welche ohne diese Akteure (zumindest so) gar nicht stattgefunden hätten.
Der französische Medienjournalist Vincent Monnier recherchierte wiederum diese „Geschichte“ (so ZAPP selbst – diesmal wären die Guten dann wohl die drei Flüchtlinge und ihr Problem nicht die Flucht, sondern die bösen, bösen TV-Produzenten) schon für den „Nouvel Observateur“ und stieß auf zahlreiche Verdachtsmomente. Die verantwortliche Produktionsfirma weist die Vorwürfe hingegen zurück, es sei „nichts bezahlt und nichts versprochen worden“. Die drei Kameruner haben nun mit einem Anwalt Klage erhoben – unter anderem wegen aktiver Beihilfe zur illegalen Einreise. Ein lehrreiches Puzzleteil zum großen Thema „Flüchtlingsstrom“.
2.) Womit wir beim sprachkritischen Kaleidoskop wären: „Flüchtlingsstrom“, das schreiben nicht nur die Boulevardmedien (wenn sie sich denn des Themas annehmen), sondern auch die als seriöser geltenden wie zum Beispiel die „Süddeutsche“ (http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingsstrom-aus-afrika-italien-will-das-mittelmeer-staerker-ueberwachen-1.1793861, Aufruf am 17.10.2013, 15.22 Uhr). Auch bei Wikipedia steht der Terminus ähnlich sachlich aufgelistet wie z.B. die Wochentagsbezeichnungen: „Als Flüchtlingsstrom (engl. „flood of refugees“) bezeichnet man Bevölkerungsgruppen, die sich auf der Flucht vor kriegerischen Konflikten, Umweltproblemen, Hunger oder Verfolgung befinden“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Fl%C3%BCchtlingsstrom, Aufruf am 17.10.2013, 15.25 Uhr). Der Onlien-Duden (http://www.duden.de/rechtschreibung/Fluechtlingsstrom, Aufruf am 17.10.2013, 15.28 Uhr) verweist neben seiner Umschreibung als „große Zahl von einherziehenden Flüchtlingen“ auf den relativ emotionalen Charakter des Wortes. Ich finde, über die Emotionalität und die Massenabfertigung hinausgehend, die Richtung der so angesprochenen Emotionen bedenklich: Ein Problem sehe ich in unangemessener Naturalisierung, ähnlich wie bei Wendungen á la „Ausbruch des Zweiten Weltkrieges“. Hier werden Naturgewalten beschworen, als ob die bei Flüchtlingsbewegungen schlicht naturgesetzlich da wären. Und gegen die man natürlich (sic!) einfach nichts machen könnte – außer (was macht man gegen Ströme oder Fluten von Wasser?), sich – noch besser – abzuschotten. Und wie weit ist es vom „Flüchtlingsstrom“ zur „Asylantenflut“? Dass diese massenhaften Menschenbewegungen nicht zuletzt soziale Katastrophen zur Ursache haben wie auch selber sind, kommt dabei kaum zur Sprache. Was ist dagegen ein so sperriges, ja unnatürliches Wort wie „Weltwirtschaftsordnung“? Albert Einstein sagte sinngemäß, Wissenschaftler (oder Journalisten, SeK) sollten alle Dinge so einfach wie möglich machen – aber nicht einfacher.
Wie ginge es journalistisch-praktisch besser als mit „Flüchtlingsstrom“? Ich würde melden oder kommentieren: „Große Gruppen von Flüchtlingen“. Ist etwas länger, aber sowohl menschlicher als auch professioneller. Und damit vielleicht sogar so einfach wie möglich.

Ein Gedanke zu “Inszenierungen und Fakes im Flüchtlingsstrom?

  1. Lieber SeK,
    ich stimme Dir fast vollumfänglich zu – Überinszenierungen in Dokumentationen (und vielleicht auch bald in „News Formaten“) besonders im TV sind nicht nur ärgerlich und bisweilen sogar betrügerisch i. Sinne von Vorspiegelungen falscher Tatsachen für die Zuschauer. Sofern als Fake entlarvt, können sie sogar kontraproduktiv für den jeweiligen inhaltlichen Gegenstand der Berichterstattung (in deinem Beispiel die Flüchtlinge) wirken: Gekaufte Flüchtlinge können latente Ressentiments im Hinblick auf „Wirtschaftsflüchtlinge“ in der Bevölkerung bedienen. Vom Glaubwürdigkeitsverlust für das ausstrahlende Medium einmal ganz abgesehen.

    Auch BILD personalisiert, pointiert und ist häufig auch den „very bad news“ besonders verpflichtet. Aber eine Inszenierung zum Zwecke der Auflagensteigerung findet nicht statt, weil Sie das wichtigste Gut eines Bezahlmediums unterhöhlen würde, nämlich die Glaubwürdigkeit beim Leser bzw. Käufer.

    Deine sprachkritische Analyse ist sicher treffend, aber ich finde hier bist Du ein wenig zu streng: Ein Strom von Fllüchtlingen veranschaulicht doch recht gut das Problem eines kontinuierlichen Prozesses, der erst aufhört, wenn seine Quelle versiegt. Und die liegt in der Heimat der Flüchtenden.

    TOK