Blog vom 9.5.2012 von Sebastian Köhler
1.) War vor Facebook etwas im Netz? Und gäbe es ein Danach? Diese Fragen stellt Felix Stalder, der in Zürich Neue Medien lehrt (vgl. Freitag 13/2012, S.15; http://www.freitag.de/kultur/1213-vor-und-nach-facebook). Das Internet war in den 1990er-Jahren bestimmt von ersten Versuchen, many-to-many-Kommunikation auf zivilgesellschaftlicher Ebene zwischen Individuen und Gruppen (peers) sowohl zu verwirklichen als auch darüber nachzudenken. Einen Höhepunkt dieser Kultur der Offenheit und Partizipation bildete 1995 der Request for Comments (RFC) mit der Toleranzfaustregel: „Sei zurückhaltend in dem, was du verschickst, und großzügig in dem, was du empfängst.“ Kurz darauf begann die massive und massenhafte Kommerzialisierung des Internets, das in bestimmter Weise auch zum Massenmedium wurde mit neuer einseitiger Gerichtetheit für viele Konsumenten. Gemeinschaften verschoben sich rasant zu Geschäftsmodellen, Börsenkurse hoben ab und stürzten bald darauf wieder. Doch nur scheinbar verlangsamte sich die Kommerzialisierung: Im Gegenteil, mit dem Web 2.0 wurde ein Label geschaffen, das in kurzer Zeit die Ware-Werdung der sozialen Bereiche in ganz neue Sphären treiben sollte. Aus sozio-kultureller und politischer Teilhabe wurde „user generated content“, der laut Stadler zum „modus operandi“ einer neuen Kulturindustrie wurde. Während die tradierte Kulturindustrie (Musik- und Medienverlage, Filmfirmen) immer stärker unter Druck zu geraten schien, legten die neuen Plattformen ungeheure Wachstümer hin. Die sozialen Kosten der Massentauglichkeit hält Stalder für hoch, denn die Vernetzung der Vielen wurde den Geschäfts-Strategien der Plattformanbieter untergeordnet. Diese Vernetzung muss seitdem stets zwei Zielen dienen: Zum einen soll sie kommunikative Bedürfnisse der Nutzer befriedigen, zum anderen die Sammlung von Daten und deren Vermarktung unterstützen. Stalder schreibt: „Diente es dem ersten Ziel nicht, floppte das Angebot, diente es dem zweiten nicht, wurde es erst gar nicht entwickelt.“ Keiner kann mehr unterscheiden zwischen Bedürfnissen der Nutzer und solchen, die überhaupt erst durch die Plattformanbieter geschaffen werden. Die Teilhabe auf solchen Plattformen dient laut Stalder der Verschleierung der neuen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse. Verschleiert wird durch die weiterhin bestehende Augenhöhe, also Horizontalität auf Seiten der vielen Nutzer, dass gleichzeitig neue, hochgradig vertikale Machtzentren auf Eigentümer- und Managementseite entstehen. Hier wird nicht nur der Wert gemeinsamer Arbeit abgeschöpft, sondern es entstehen auch neue Kontrollpunkte. An diesen Punkten fällt Wissen über die Zusammensetzungen und Entwicklungen der Gesellschaft „in Echtzeit“ an. Aus Motiven der Vermarktung oder auch Vermachtung kann mit solchem Herrschaftswissen – kaum bemerkbar – in gesellschaftliche Prozesse eingegriffen werden. Die Widersprüche zwischen den Dynamiken horizontaler Vernetzung und vertikaler Kontrolle werden Stalder zufolge deutlicher. Für politische Aktivisten ist Facebook mittlerweile ein Risiko – Geheimdienste werten nicht nur routiniert Daten aus, sondern es werden auch gezielt Seiten gelöscht oder Zugänge gesperrt. So kommt der engagierte Nutzer zeitlich von „vor Facebook“ zu „nach Facebook“: Die alte Internet-Erfahrung, dass man nicht nur Inhalte, sondern auch Infrastrukturen selber schaffen kann und manchmal muss, führt zu Entwicklungen wie den „Maschen-Netzwerken“, „mesh-networks“, jenseits zentraler oder zentralisierter Infrastrukturen. Gemeinsame Infrastrukturen sollen entstehen durch die Vernetzung vieler lokaler Netzwerke. So könnte das emanzipatorische Potential der Horizontalität von Gruppen von Neuem befreit werden von den Zwängen der Vertikalität durch Vermarktung und Vermachtung.
2.) Lokaljournalismus hat es anscheinend besonders schwer, den Fallen der „Hofberichterstattung“ und des Überangepasstseins mit Blick auf die Mächtigen zu entgehen – selbst an den wenigen Orten in Deutschland, an denen nicht nur ein Verlag allein über das örtliche Geschehen berichtet. In Potsdam gibt es immerhin zwei Lokalredaktionen von Tageszeitungen, die der MAZ (seit 2012 zur Madsack-Gruppe Hannover gehörig) und die der PNN (über den Berliner „Tagesspiegel“ zum Holtzbrinck-Konzern Stuttgart/München zählend). In einem Bericht über die Diskussion im Potsdamer Stadtparlament zum Angebot des Software-Milliardärs Hasso Plattner, in Potsdam eine Kunsthalle zu errichten, schreibt Henri Kramer (vgl. PNN, 4.5.2012, S.9), dem das Angebot Plattners apriori als „Geschenk“ gilt: „Doch nun sprachen jene, die das Geschenk Plattners auch bereit sind auszuschlagen. So Hannes Püschel von der Fraktion Die Andere: Er behauptete, Plattners Firma „SAP“ sei gewerkschafts- und betriebsratsfeindlich.“ Das Verb „behaupten“ als eines aus dem Wortfeld „sagen“ ist schon viel negativ-wertender als die Verben, die Kramer in seinem Bericht den Unterstützern von Plattners Vorschlag zuspricht: Die nämlich äußern sich, indem sie etwas „sagen“, vor etwas „warnen“, etwas „nennen“ oder um etwas „bitten“, sich sogar „freuen“ oder einfach „reden“. Allesamt relativ sachliche oder leicht positiv-glaubwürdig besetzte Verben aus dem Wortfeld „sagen“. Aber für besagten Vertreter der „Anderen“, einen der wenigen erklärten Kritiker des Projektes, hat Journalist Kramer noch einen besonderen Sprechakt in petto: Dieser Hannes Püschel nämlich „ätzte, für ‚hungernde Kinder‘ hätten (sic! Konjunktiv II) die Stadtverordneten kein Geld übrig“. Laut Duden ist „ätzen“ ein Terminus, der relativ stark wertet – er wird demzufolge salopp verwendet und besagt, dass sich jemand ätzend und damit zerstörend und zerfressend äußere. Solch ein Verb mögen Journalisten – gut begründet – in Kommentaren oder Glossen verwenden – aber in einem Bericht? Man mache die Umkehrprobe und frage sich, ob im Sinne des möglichst gleichen Abstandes zu allen (gewählten) Akteuren auch der Oberbürgermeister oder die Dezernentin (als Vertreter des Regierungslagers) „ätzen“ könnten in der Optik des Journalisten Kramer? Das darf als extrem unwahrscheinlich gelten. Es gibt die – meines Erachtens sehr sinnvolle – Forderung des Journalistik-Professors Michael Haller nach „Äquidistanz“ gerade für die informationsbetonten Darstellungsformen wie Meldung oder Bericht. Oder auch die Mahnung des einstigen TV-Nachrichtenmoderators Hanns-Joachim Friedrichs, der zufolge sich Journalisten nie verbrüdern sollten mit einer Sache – und scheine sie auch noch so gut zu sein. Zumal bei in der betroffenen Bevölkerung durchaus umstrittenen Angelegenheiten (wie der hier unüberlesbar hofierten Offerte Plattners) sollten solche Handwerksregeln nicht einfach „weggeätzt“ werden – zumindest nicht in einem Journalismus, der sich der Demokratisierung verpflichtet sehen möchte.
3.) Im RBB-Inforadio fragte am Morgen des 9.5. Moderatorin Anne-Kathrin Mellmann im Interview die Politikerin Ramona Popp von den Berliner Grünen angesichts der Meldung von der Schönefelder Flughafen-Verspätung: „Ist das der Augenblick, wo Köpfe rollen sollten?“. „Köpfe rollen“ klingt natürlich immer gut – aber „wo“?