Der Fall der mutmaßlichen Neonazi-Mordserie zwischen 2000 und 2007 weist neben vielen Merkwürdigkeiten auch offenkundige Skandale auf: Der Thüringer Verfassungsschutz hat anscheinend nicht nur ca. 1,5 Millionen Euro als „Nazi-BAFöG“ ausgeschenkt (Oliver Welke in der „heute show“ vom 18.11.2011). Sondern das Amt hat – der Journalistengewerkschaft „dju“ (Verdi) zufolge – auch anderweitig Steuergelder ziemlich „innovativ“ eingesetzt: Die Schlapphüte gründeten laut dju verdeckte Firmen, die dann TV-Journalisten Produktionsaufträge erteilten mit dem Ziel, „an Bild- und Tonmaterial von Rechtsradikalen zu kommen“. Die Gewerkschaft erklärte, sie sehe darin einen „vollkommen inakzeptablen Missbrauch journalistischer Arbeit.“ Es könne nicht sein, dass Journalistinnen und Journalisten ohne ihr eigenes Wissen als Spitzel für den Verfassungsschutz eingesetzt würden. Wie reiner Hohn müsse es den Betroffenen erscheinen, wenn der Thüringer Ex-Verfassungsschutz-Chef Helmut Roewer jetzt lobe, „die Fernsehleute hätten Bilder geliefert, die Beamte normalerweise nie bekommen hätten“ und gleichzeitig beklage, dass die Aktion furchtbar teuer gewesen sei. Das könnte übrigens einer der wenigen Punkte sein, die dem ehemaligen Panzeroffizier nicht vorzuwerfen wären: dass er freie Mitarbeiter – wie hier Nazis oder dort eben Journalisten – auch noch schlecht bezahlte.
Während der Jahrestagung der deutschen Zeitschriftenverleger (VDZ) in Berlin erklärte die Meinungsforscherin Renate Köcher, Geschäftsführerin des Institutes für Demoskopie Allensbach, angesichts von mittlerweile 30 Prozent „printabstinenten“ jungen Menschen (14 bis 29 Jahre) in Deutschland: “Der Zusammenhang zwischen Printaffinität und politischem Interesse ist außerordentlich eng” (siehe www.wwwagner.tv und BLZ vom 19.11.2011, S.33). Aus Köchers Argumenten lese ich eine Weiterentwicklung des kommunikationsempirischen Modells von der „wachsenden Wissenskluft“ (Tichenor et al. 1970 – Tenor: bildungsnahe Schichten ziehen aus massenmedialem Input mehr Nutzen als bildungsferne). Nicht bezogen auf Alltagswissen oder -Fertigkeiten, denn z.B. gerade intensive Nutzer von privat-rechtlichen TV-Sendern geben ja viel Geld und Zeit für ihren Fernsehkonsum aus und sind oft Experten in Sachen HD oder 3D. Aber bezogen auf öffentlich-relevante Informationen – also solche Infos, die einerseits unser aller Leben nachhaltig beeinflussen; und andererseits, deren zugrundeliegende Ereignisse (Regierungspolitik, Lohnentwicklung etc.) wir zumindest mit-bestimmen (können/sollten). Frau Köcher befand, die Fülle von Möglichkeiten des Informierens und Unterhaltens vergrößere die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten. Die Lesenden informierten sich auf immer mehr und schnelleren Wegen, während sich die „Unterschicht“ zurückziehe. Was bleibt dagegen? Den Umgang mit Medien nicht nur in privat-relevanter (das Interessante auf Facebook oder YouTube), sondern auch in öffentlich-relevanter Hinsicht auf hohem Niveau bereits in Kindergarten und Schule zu fördern – in möglichst kleinen Gruppen mit kommunikativ kompetenten Partnern.
Im Nachrichten-Beitrag auf n-tv am Morgen des 22.11. zu Neuigkeiten im Falle der Neonazi-Ermittlungen verlautete der Sprechertext des Berichtes, Verfassungsschutz-Präsident Heinz Fromm habe sich wegen Pannen seitens der Sicherheitsbehörden entschuldigt. Selbst wenn Fromm das tatsächlich und wörtlich so gesagt haben sollte – es bliebe falsch. Was ist (weiterhin) der Punkt beim Sprechakt des Entschuldigens?