Zwei Fragen des Respektes

1.) Richard Gutjahr (geboren 1973 in Bonn) gilt als einer der bekanntesten deutschen Journalisten, Blogger und Moderatoren. Anfang 2016 war er Mitarbeiter der Chefredaktion des Bayerischen Fernsehens (BR) und neben seiner Bloggertätigkeit auch für andere Medien (FAZ, Tagesspiegel etc.) journalistisch tätig. Er hat das Medienjahr 2015 in zehn Lektionen bilanziert (http://www.gutjahr.biz/2016/01/2015-learnings/?xing_share=news, Aufruf am 6.1.2016, 19.12 Uhr).

1. Platform killed the Media-Star – die etablierten Medien sieht Gutjahr als hilflos an gegenüber den neuen Akteuren wie vor allem Facebook und Google. Mit dem Siegeszug von Videos und „Instant Articles“ und der weitgehenden Übernahme der Werbung durch die Plattformen wird für Gutjahr deutlich: Verlust der Kontrolle über eigene Inhalte im Tausch gegen erhoffte neue Reichweiten.

2. Technology matters!
Junge Nutzer seien vor allem in den USA zunehmend ungeduldig. Was Mark Zuckerberg und Jeff Bezos seit jeher predigten, scheint auch für Gutjahr ein reales Problem. Technische Mängel wie zu lange Ladezeiten oder irreführende Weiterleitungen werden von Jüngeren abgestraft. Studenten klickten kaum noch auf Links. Zu langwierig, zu umständlich. Der zu erwartende Informationsgewinn gegenüber dem Zeitverlust zu gering. Gutjahrs Forderung: Mehr Softwareentwickler (Coder)! Die technische Umsetzung journalistischer Angebote sei mindestens so entscheidend wie Themenauswahl oder Recherche.

3. Partikel statt Artikel – Nachrichten werden Gutjahr zufolge kaum noch zusammenhängend verfolgt, sondern in Fragmenten, die wie eine Art Fortsetzungsgeschichte über den Tag hinweg genutzt würden, oft sogar nur mehr über verlängerte Schlagzeilen oder Push-Nachrichten auf dem Lock-Screen des Smartphones. Das setze völlig neue Artikelstruktur und –Taktung voraus. Aber auch längere Texte blieben gefragt, verstärkt am Wochenende oder an Feiertagen – dann gerne auch auf bedrucktem Papier. Gutjahrs Fazit hier entgegen dem „Snowfalling“: Weg von der strukturierten Geschichte, hin zu granularen (also für die Nutzer passgenauen), thematisch gebündelten Nachrichten-Updates.

4. New Kids On The Block – Bei diesem Punkt äußert Gutjahr Zweifel, ob der sich von den USA auf Deutschland übertragen lasse. Wenn man US-Studenten frage, aus welchen Quellen sie sich nachrichtlich informierten, finden sich Gutjahr zufolge auf der Liste der meistgenutzten Informationsquellen einige alte Bekannte, wie z.B. die New York Times oder auch CNN. Andererseits fänden sich unter den Top-10-Nachrichtenquellen immerhin sechs Medienmarken (z.B. Huffington Post, Politico, Buzzfeed oder Vox), die es vor zehn Jahren noch nicht gab. Randnotiz: CNN werde bei den Jungen offenbar nicht mehr als TV-Sender wahrgenommen, sondern als Online-Angebot. Ein Wink für die deutschen öffentlich-Rechtlichen? Also: Auch klassische Medienmarken könnten überleben, sofern sie sich angemessen an die neue Medienrealität anpassten.

5. Livestreaming goes Mainstream – Livestreaming-Apps wie Meerkat und Periscope deuten für Gutjahr mehr als nur an: Kein Liveticker sei schneller, intimer und näher dran als Livevideo. Spätestens mit der neuen Mobilfunkgeneration 5G (LTE+), besseren Akkus und einer Integration von Periscope & Co in TV-Geräte (siehe Apple TV) dürften Livestreams den Mainstream erreichen. Der gute alte Live-Reporter werde dank Livestreaming sein großes Comeback erleben.

6. Augenzeugenvideos betreuen – Die Instant-Messaging-Plattform Snapchat habe von allen so genannten „Social Networks“ das größte Potential, zu den großen Facebooks und Twitters aufzuschließen. Mit der Einführung von Profi-Inhalten (Discovery) sei es Snapchat gelungen, sein einstiges Image als Teenager- und Sexting-App abzulegen. Auch bei Ereignissen wie den Anschlägen von Paris 2015 ließ sich das Potential (kuratierter) Augenzeugen-Videos zumindest erahnen. Mit seiner Mischung aus Messaging- und Video-Plattform kombiniere Snapchat zwei große Stärken von Smartphones. Hinzu komme die geschickte Integration der Lokalisierungsfunktion, von Filtern, In-App-Verkäufen und nicht zuletzt Werbung. Keine Plattform zuvor habe so früh so viele und so unterschiedliche Monetarisierungswege erschlossen. Die US-Präsidentschaftswahl 2016 sollte der App zum weltweiten Durchbruch als News-Plattform verhelfen können.

7. Die Smartwatch als Schlüsselbund – Gutjahr schreibt, er glaube an die Zukunft von Wearables. Wenn man die Smartwatch nicht als Uhr, sondern als Schlüsselbund begreife, mit dem man bezahlen, Türen öffnen, digitale Inhalte freischalten kann, deren Nutzungsrechte man erworben hat. Keine Magnetkarten, keine PIN-Codes oder Passworte mehr. Ein Selbstläufer (natürlich auch, was den Datenhandel angeht, SeK). Smartwatches werden sich laut Gutjahr durchsetzen. Weniger als Medien-Empfangsgerät, sondern als digitaler Geldbeutel und Schlüsselbund.

8. Klasse statt Klicks – Qualität wird laut Gutjahr neben der Schnelligkeit wieder wichtiger. Gemeint seien damit nicht jene Schau!-mich!-an!-Multimedia-Projekte, um zu prahlen, was man theoretisch alles drauf habe (das “Snowfall-Syndrom”). Allerdings müsse man sich von dem Gedanken verabschieden, durch Qualität viele Klicks oder eine große Reichweite zu generieren. Die neue Währung im Netz laute Aufmerksamkeit, also hier Relevanz und Vertrauen, die man zu seinem Publikum aufbaue. Refinanzierung erfolge nicht mehr ausschließlich über Masse, sondern über neue, noch schwer messbare Kriterien wie Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Engagement.

9. There is no business like „Beziehungsbusiness“ – Wir sind Menschen – und als solche identifizieren wir uns vor allem mit anderen Menschen, nicht mit Marken. Ein Prinzip, das durch Digitalisierung eher noch wichtiger werde – FACEbook mache es vor. Journalisten werden Gutjahr zufolge Teil der Produkte, die sie herstellen. Er möchte sogar behaupten: Das eigentliche Produkt seien am Ende wir selbst. In einer Zeit, in der es keinen Mangel an Information gebe, werde der Filter zum Entscheidungskriterium, nicht die beliebig austauschbaren Inhalte. Gefragt seien in Zukunft Experten, die über ein eigenes Stammpublikum (Fans & Follower) verfügten, die sie einem potentiellen Unternehmer als “Mitgift” mitbringen dürften. Je weiter sich das Publikum fragmentiere, desto wichtiger würden die einzelnen Mitarbeiter, die in bestimmten Nischen eine überdurchschnittliche Glaubwürdigkeit besitzen sollten. Auch US-Starblogger Jeff Jarvis sehe im Relationship-Business den alles entscheidenden Faktor für das Überleben klassischer Medienanbieter. Daher rückten die Mitarbeiter als einzelne stärker ins Zentrum der Medienwelt, sollten an Macht innerhalb der Sender und Verlage gewinnen.

10. Endspiel: Kreative Talente respektieren – In einer digitalisierten Welt sind aus Gutjahrs Sicht Kreativität und Talent der letzte „Battleground“, der in der Konkurrenz über Sieg oder Niederlage, Aufmerksamkeit oder Austauschbarkeit entscheide. Medienverantwortliche sollten in die Menschen „investieren“ und innerhalb ihrer Teams für das richtige Klima zu sorgen. Derjenige, der Individuen exzellent bedienen kann, gewinnt Gutjahr zufolge. Aufmerksamkeit im Tausch gegen Respekt – und zwar sowohl gegenüber dem Publikum als auch gegenüber den eigenen Mitarbeitern – so Gutjahrs Formel für ein Überleben in digitalen Zeiten

2.) Zum sprachkritischen Kaleidoskop: Barbara Hallweg in den ZDF-Heute-Nachrichten am 6.1.: Es sei weiter unklar, „warum die Polizei in Köln die Übergriffe in der Silvesternacht nicht hat verhindern können“. Können? Genau das ist ja offenbar das Problem – die Sicherheitskräfte haben das nicht verhindert. Ob sie es hätten verhindern KÖNNEN, ist aber die Frage. Die Formulierung nimmt die Polizei tendenziell in Schutz, was meines Erachtens nicht sein sollte. Auf der anderen Seite reden einige Medien bereits von „Massenüberfällen“ (siehe u.a. https://www.ndr.de/info/Wendt-besorgt-ueber-Massenueberfaelle-in-Koeln,audio268134.html, Aufruf 6.1.2016, 19.32 Uhr), wo ich Ausdrücke wie „Massenübergriffe“ nach derzeitigem Kenntnisstand für angemessener halte. Zwei inhaltliche Lehren ziehe ich aus dem medialen Geschehen: Trotz ausgedünnter Redaktionen sollte wieder mehr professionelle Skepsis auch gegenüber Behörden als Quelle praktiziert werden. Und andererseits – warum haben sich von den offenbar vielen, vielen Dutzenden Opfern oder auch Augenzeugen nicht viel schneller welche (auch) an klassische Medien gewandt? Wie steht es mit dem Vertrauen und damit der Legitimation vieler etablierter Medien bei anscheinend nicht gerade geringen Teilen der Bevölkerung? Respekt dürfte auch hier ein grundlegendes Problem sein ….

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