Neues aus der Giftküche

Als gleichsam szenischer Einstieg in diesen Beitrag eine „Geschichte“ von einem aktuellen Fall von „Fake News“, in einer insgesamt über Wochen dauernden, dramatischen Medien-Story. Und zwar von einem sehr etablierten Medium der westlichen Welt, von der französischen Nachrichtenagentur AFP. Am 12.4.2018 meldete man dort im deutschen Dienst Folgendes ( https://www.nachdenkseiten.de/?p=43460, Aufruf am 12.4.2018, 21.55 Uhr): „OPCW bestätigt russische Herkunft des Giftes im Fall Skripal“

Wichtige deutsche Online-Medien wie Spiegel, Welt und SZ übernahmen diese Falschmeldung zunächst anscheinend mehr oder weniger per „copy and paste“. Doch von „russischer Herkunft“ des Giftes im Fall Skripal war in der an jenem Tag veröffentlichten Mitteilung der Organisation an keiner Stelle die Rede. Im Laufe des Tages änderten die erwähnten Medien ihre Texte, bei AFP war die Falschmeldung allerdings noch zehn Stunden später im Netz für jedermann zu finden (https://www.afp.com/de/nachrichten/59/opcw-bestaetigt-russische-herkunft-des-giftes-im-fall-skripal-doc-13y68j1, Aufruf am 12.4.2018, 22.19 Uhr). Thomas Borgböhmer vom deutschen Branchendienst „meedia“ schrieb (http://meedia.de/2018/04/13/fall-skripal-und-die-russen-wie-sich-qualitaetsmedien-ein-wettrennen-um-die-schnellste-falsche-eilmeldung-lieferten/?utm_campaign=NEWSLETTER_MITTAG&utm_source=newsletter&utm_medium=email, Aufruf am 15.4.2018, 19.48 Uhr), es habe sich „keineswegs“ um „bewusst verbreitete Desinformation“ gehandelt. Vielmehr hätten in diesem Fall „wohl gängige redaktionelle Arbeitsweisen gegriffen“. Denn es gelte: „Nachrichtenagenturen wie die dpa, Reuters und die AFP sind vertrauenswürdige Quellen, deren Material bedenkenlos verwendet werden kann. Dass die dort arbeitenden Journalisten Fehler machen, schließt das freilich nicht aus. Im vorliegenden Fall war der Ausgangspunkt der Eilmeldungen und Überschriften ein von der Nachrichtenagentur AFP verbreiteter Artikel (…)“.
Das finde ich fragwürdig: Denn ob etwas Falsches „bewusst“ oder „aus Versehen“ publiziert wird, erschließt sich nicht ohne Weiteres. Es scheint mir in vielen Fällen leider als Glaubensfrage gehandhabt zu werden – wir glauben, AFP-Kollegen machten aus Versehen Fehler, und wir glauben, Kollegen zum Beispiel von RT oder anderen Medien machten bewusst „Fake News“. Aber vielleicht „glauben“ diese ja (auch), was sie publizieren. Auf der Reflexionsebene daher interessant: Man kann diese AFP-Falschmeldung durchaus als fast schon klassische „Fake News“ im Sinne zum Beispiel der Definition von Alexander Sängerlaub interpretieren (https://www.stiftung-nv.de/sites/default/files/fakenews.pdf, Aufruf am 3.1.2018, 17.02 Uhr). Das häufig benutzte Unterscheidungskriterium für „Fake News“, diese seien nicht nur falsch, sondern bewusst falsch und zudem ebenfalls bewusst zur Propaganda eingesetzt, halte ich allerdings zumindest für problematisch. Wer wollte wie in die Köpfe der Journalisten hineinschauen? Wissen sie es besser oder zumindest anders? Lügen sie also? Was auch diese Menschen glauben oder „wirklich glauben“, sollte ihre Privatsache sein und Theologen oder Psychologen vorbehalten bleiben. Doch die AFP-Meldung kann (auch) interpretiert werden als gezielte Verbreitung von falschen oder irreführenden Informationen, um jemandem zu schaden (in dem Fall der russischen Führung, woran die französische Führung – die der AFP relativ direkt einen wichtigen Teil von deren Ressourcen liefert – offenbar in jenen Tagen ein nicht unbeträchtliches Interesse gehabt haben dürfte mit Blick auf mutmaßliche russische Verantwortung für den etwaigen Einsatz chemischer Giftstoffe in Salisbury und in Syrien).
Tritt man medienkritisch noch einen Schritt weiter zurück, zeigen sich Verbindungen zwischen Falschmeldungen (oder eben auch „Fake News“) und dem Storytelling: Die Geschehnisse um den Nervengiftanschlag auf den Ex-Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter am 4.März 2018 wurden in vielen westlichen Medien als „Story“ vermittelt, als die Geschichte zweier Menschen, Vater und Tochter, die sich plötzlich mit einer großen Gefahr konfrontiert sahen. Der „böse“ Gegenspieler der beiden recht deutlich positiv besetzen Hauptfiguren wurde in vielen dieser Medien relativ schnell ausgemacht, „Russland“ (Siehe unter anderem https://www.bild.de/politik/ausland/skripal-sergej/der-kreml-luegt-55374022.bild.html, Aufruf am 12.4.2018, 22.25 Uhr). Und damit die Geschichte auch klar ankommt bei der Zielgruppe, wurden manche klassischen Handwerksregeln anscheinend kaum noch beachtet: Die SZ meldete wie viele andere wichtige Medien am 12.4.2018: „Julia Skripal will keinen Kontakt zur russischen Botschaft“. Das passte ins Bild, das mochte man sehr gut verstehen.

Kleiner Schönheitsfehler: Das konnte man hier nicht direkt von Frau Skripal wissen. Quelle dieser Meldungen war eine Verlautbarung von Scotland Yard, einer britischen Behörde. Und gerade bei kontroversen Themen sollte gelten, was u.a. Michael Haller immer wieder betont: Versionen als Versionen kennzeichnen! Die Quelle angeben, damit Mindestanforderungen an Transparenz erfüllt werden. Man hätte also zum Beispiel von vornherein (und nicht erst im Kleingedruckten) schreiben sollen: „Laut Scotland Yard will Julia Skripal keinen Kontakt zur russischen Botschaft“. Solch eine Meldung könnten mündige Nutzerinnen und Nutzer dann eigenständig kritisch einordnen. Insgesamt lässt sich anhand einer medialen Story wie jener über den Anschlag auf Julia und Sergej Skripal sowie dessen Folgen diskutieren, was mein Konzept von „Narrativismus“ kritisch zu beschreiben versucht (siehe in meinem Buch „Die Nachrichtenerzähler“ von 2009).

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